Kurzkritik:Jeder Krieg

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Mariss Jansons' kluge Schostakowitsch-Analyse

Von Egbert Tholl, München

1942 zerstörten die Nazis das tschechische Dorf Lidice, ermordeten die männlichen Bewohner - "Vergeltung" für das Attentat auf Reinhard Heydrich, "stellvertretender Reichprotektor von Böhmen und Mähren". Im Jahr darauf komponierte Bohuslav Martinů im Exil das einsätzige Orchesterstück "Mahnmal für Lidice" - zehrende, schmerzvolle Musik, die Geräusch, Schrecken und Hymnus vereint. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielt das "Mahnmal" als "Überraschungsstück" vor dem angekündigten Programm, das allein aus der siebten Symphonie von Schostakowitsch besteht. Dieser Brauch des Überraschungsstücks ist fabelhaft, eine Erweiterung der Hörgewohnheiten, gegen die sich das Publikum nicht wehren kann - gut so. Und in diesem Fall fabelhaft richtig, sicherlich erschütternd, eine grandiose Hinführung zum Kommenden.

Mariss Jansons sieht fabelhaft aus an diesem Abend in der Philharmonie. Und auch die Aufführung der Siebten, der sogenannten "Leningrader" Symphonie, gelingt fabelhaft. Weil man vom ersten Ton an merkt, wie gut Jansons dieser Werk kennt. Vordergründig kann man diese Symphonie erleben, wie man einen Roman läse, also friedliches Leben, Einbruch der Gewalt, Reminiszenz an eine glückliche Vergangenheit, Sieg. So in etwa fiel wohl auch die Lesart der sowjetischen Offiziellen aus, als die Symphonie 1942 uraufgeführt wurde, im sowjetischen Künstlerexil Kuibyschew, während die Nazi-Truppen Leningrad eingekesselt hatten und auf das Verhungern der Bevölkerung warteten.

Doch es steht zu vermuten, dass Jansons alles weiß über diese Musik. Also hört man deutlich das erste Auftauchen des alles zermalmenden Marschmotivs lange vor der eigentlichen Invasion - es gibt hier nicht die vermeintliche Sicherheit einer ordnenden historischen Tonerzählung. Also hört man viel Querstehendes, einen sehr schalen Sieg aus Trümmern und man erkennt, dass Schostakowitsch viel subtile Abscheu gegen Totalitarismus jeder Art in Tönen formuliert. Jeder Triumph einer neuen sowjetischen Gesellschaft bleibt aus. Stattdessen erfährt der Zuhörer viel von der Fragilität von Freiheit und Schönheit angesichts jedes Krieges. Ein Erlebnis.

© SZ vom 13.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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