Kurzkritik:Intim im Team

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Chiara Pancaldi und Cyrus Chestnut in der Unterfahrt

Von Oliver Hochkeppel, München

An die Kälte muss man sich erst gewöhnen. Anders ist kaum zu erklären, dass so viele (reservierte) Plätze in der Unterfahrt frei blieben - bei einer echten Attraktion. Der amerikanische Pianist Cyrus Chestnut, einer der ganz Großen der mittleren Generation, war nach 15 Jahren mal wieder in der Stadt. Nominell freilich war es das Konzert der italienischen Sängerin Chiara Pancaldi. Ihre Tour mit dem Album "I Walk A Little Faster" stand auf dem Programm, Chestnut fügte sich ebenso in die Begleiterrolle wie der Bassist Daryl Hall und der österreichische, nun in Paris lebende Schlagzeuger Bernd Reiter.

Die italienisch-amerikanische Kollaboration kam zustande, als Chestnut Pancaldi 2012 zu Auftritten ans New Yorker Lincoln Center holte und - schwer von ihr begeistert - vorschlug, eine CD zusammen zu machen. Daraus sind zwei Alben geworden, und schon der Initiationsort ihrer Zusammenarbeit weist in die musikalische Stoßrichtung, die auch in der Unterfahrt dominierte: Den beiden geht es nicht darum, eine neue Spielart des Jazz zu erfinden, sie treibt eine evolutionäre Traditionspflege um. So setzt Chiara Pancaldi ihren glasklaren Sopran für klassischen Jazzgesang ein, dessen Phrasierungen, gezogenen Linien und Scat-Passagen an die großen Damen des Metiers erinnern. Dem entspricht das Repertoire aus "My Fair Lady"-Krachern, temporeichen Bebop-Nummern und schmachtend-melancholischen Torch Songs. Cyrus Chestnut veredelt dieses Programm mit seinem harmonischen Gespür, seinen unerreicht flinken Verzierungsläufen in der Rechten und seinem Gospel-Feeling. Die ganze Traditionslinie von Art Hodes, George Gershwin, Count Basie bis zu Erroll Garner und Oscar Peterson vereint sich in seinem Spiel. Dazu passten die warmen und filigranen Soli von Hall und das Schlagzeug Reiters, auch wenn letzteres manchmal zu laut daher kam. Es kommt nicht mehr oft vor, dass man den Kanon der "zweiten Klassik" auf derart virtuosem Niveau und mit derart reflektierter individueller Note live zu hören bekommt. Für Fans eines traditionellen und trotzdem vorwärtsgewandten Jazz war dieses Konzert ein Fest.

© SZ vom 01.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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