Kurzkritik:Gerüttelt, nicht gerührt

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Jess Glynne mit massentauglichem Programm

Von Oliver Hochkeppel, München

Vor allem im angelsächsischen Raum gibt es - von Justin Timberlake und Christina Aguilera bis zu Kelly Clarkson oder Leona Lewis - zwar einige Ausnahmen von der Regel, dass eine erfolgreiche Castingshow-Teilnahme keine nachhaltige Karriere begründet. Doch die wichtigsten Pop- und Rockstimmen der vergangenen Jahre sind eben immer noch Castingshow-unbeleckt. Vielleicht hatte die Britin Jess Glynne also sogar Glück, dass sie nie genommen wurde, obwohl sie es bei einigen Wettbewerben versuchte. Sie schaffte es dann über andere Kanäle - ihre Mutter arbeitete als Talentscout bei ihrer aktuellen Plattenfirma Atlantic, und einige Zeit werkelte sie selbst bei einer Musikmanagement-Firma.

Talent alleine reicht offenkundig schon lange nicht mehr. Was an Jess Glynne bei ihrem seit langem ausverkauften Auftritt in der Muffathalle am meisten auffiel, war dementsprechend nicht ihre einprägsame, vielleicht sogar unverwechselbare Stimme - die zwischen hell und dunkel, zwischen rau und strahlend angesiedelt ist und über ein eigentümliches Vibrieren verfügt, ähnlich dem leichten Meckern einer Esther Phillips -, sondern das clevere Konzept. Gnadenlos auf Massentauglichkeit ist ihr Dancefloor-Soul angelegt; mal spielt ein bisschen Techno rein, mal zitiert sie Motown-, Disco- oder Wave-Elemente. Ein Amy-Winehouse-Titel in einer recht schön reduzierten, unterkühlten Version gehört natürlich auch zum Repertoire. Hallenerschütternde Bässe und Keyboard-Flächen, das eine oder andere Gitarrensolo und die nicht zuletzt von den Castingshows gewohnten Vokaleinlagen mit ihren zwei Background-Sängerinnen verpacken die Songs wirkungsvoll. Und da die meisten Stücke mächtig Drive und eine solide Hookline haben, funktioniert das Ganze einwandfrei. Schade nur, dass die zwei besten Songs von Glynne gar nicht vorkamen, weil sie die für und mit Clean Bandit eingesungen hat.

Man ging also eher nicht berührt oder gar vergeistigt nach Hause, aber angenehm durchgerüttelt und durchgeschwitzt. Und mit einer kleinen Entdeckung im Gedächtnis: Die 21-jährige Norwegerin Julie Bergan fiel im Vorprogramm als jüngstes skandinavisches Pop-Fräuleinwunder auf.

© SZ vom 22.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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