Kurzkritik:Die Festung

Lesezeit: 1 min

Valery Tscheplanowa erkundet im Marstall Kafkas "Bau"

Von Egbert Tholl, München

Rumpelnd fahren die Scheinwerfer hernieder, eine Stimme wispert einem leise ins Ohr. Doch noch sind die Zuschauer allein im Marstall, sitzen auf vier Tribünen einander gegenüber. In der Mitte ein kleines Geviert, das gleich das Wesen erobern wird, das hier von seinem Leben und seinen Bauunternehmungen berichten wird. In Kafkas Erzählung "Der Bau" ist das ein Tierchen, das unter der Erde lebt, ein Maulwurf vielleicht oder irgendetwas anderes Possierliches. Und auch wenn Kafkas extrem hinterlistiger Text ein bisschen was von Discovery Channel auf Papier hat - die Possierlichkeit ist hier schnell vorbei.

Valery Tscheplanowa hat ja auch ein bisschen was von einem Tierchen, ein kleines Wesen, begabt mit riesengroßer Kunst. Hier kommt sie nun hervor, um Kafkas Text, den sie mit dem Regieassistenten Jakub Gawlik eingerichtet hat, lebendig zu machen. Dabei schaut sie aus wie eine Mischung aus deutscher Michel und Märchenarbeiter, trägt eine kurze, gelbe Hose, rote Strümpfe, eine weißes Hemd und eine rote Mütze, summt und singt "Wochenend und Sonnenschein" und verkörpert überhaupt erst einmal eine frohgemute Spießernatur, der ein kleines Glück im Leben genügt.

In Kafkas Erzählung erzählt der unbestimmt bleibende Baubewohner, wie er sein unterirdisches Refugium anlegte, es sicherte, mit Vorräten füllte. Der Antrieb ist eine Angst, die zunächst unbestimmt bleibt, abstrakt, die erst einmal nur das Kalkül bestmöglicher Abschottung nach außen evoziert. Doch dann tauchen neue Geräusche auf, die der Bewohner nicht einordnen kann, die abstrakte Angst wird zur Panik, zu einem Furor, welche Maßnahme mag jetzt noch Schutz bieten. Doch am Ende: "Alles blieb unverändert."

Im Marstall sagt diesen Satz die Souffleuse. Die Panik hat die Bewohnerin aufgefressen. Doch deren Hysterie ist nur eine der tausend Farben, mit denen Tscheplanowa den Text durchleuchten und erhellen kann. Präziser noch als die harten Lichtwechsel von Uwe Grünewald ändert sie in scharfen Übergängen ihren Duktus, ist stolze Herrscherin des selbsterschaffenen Reichs, Erbsenzählerin und Medium flirrender Angst in allen Schattierungen. Kein Wunder, dass Kafkas Text derzeit von den Theatern entdeckt wird, kann man ihn doch mühelos als Metapher auf die Festung Europa und deren Bewohner lesen, geschrieben fast 90 Jahre vor der jetzigen Situation. Und bei Tscheplanowa ein faszinierende Erlebnis heute.

© SZ vom 06.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: