Kurzkritik:Baumparabel

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Philharmoniker spielen Maazels "The Giving Tree"

Von Barbara Doll, München

Es ist eine putzige Parabel: Ein Junge und ein Baum sind befreundet. Jeden Tag kommt der Junge zum Baum, rutscht auf dem Stamm herum und ist glücklich. Doch je älter er wird, desto mehr fordert er von dem Baum. Er will seine Äpfel, sein Holz. Der Baum schenkt dem Jungen alles, bis nur noch ein Stumpf von ihm übrig ist. Und obwohl er nichts zurückbekommt, ist er glücklich. "The Giving Tree" ist ein US-amerikanischer Kinderbuch-Klassiker; für Lorin Maazel war er eine "sehr zarte Geschichte über die Gleichgültigkeit zwischen den Menschen." Der 2014 verstorbene Dirigent, als Komponist nur wenig bekannt, hat die Geschichte in ein Stück gepackt. Die Philharmoniker spielen es unter Rafael Payare im Gedenken an ihren ehemaligen Chefdirigenten; Sprecherin ist die Schauspielerin Dietlinde Turban Maazel, Lorin Maazels Witwe.

Maazel illustrierte die Geschichte mit breitem Klangfarbenspektrum und simplem musikalischem Ausdruck. Es ist die klare Erzählweise von Turban Maazel, die das Stück intensiv und lebendig macht. Die Wesensveränderung des Jungen spiegelt sich im Cello-Solo (Michael Hell) wider: Je mehr ihn die materialistische Welt absorbiert, desto aggressiver die Klangsprache. Musikdramatisches lag Maazel offenbar mehr als reine Orchestermusik. Das zeigt sich an "Echoes Of A Solitary Voice". Er hinterließ es als Fragment, das Wayne Oquin vervollständigte. Das Stück erzählt von Beklemmung, arbeitet mit zwingender Rhythmik und perkussiven Klangfarben - doch der Eindruck bleibt schal.

Der Venezolaner Rafael Payare lässt schlagtechnisch nichts anbrennen: Wagners Tannhäuser-Ouvertüre dirigiert er fast übertrieben genau, organisiert die Tempi straff. Rausch und Geheimnis gehen dabei ein wenig verloren. In Schostakowitschs fünfter Symphonie zahlt sich die Präzision aus: Erpresste Jubelmusik und zirzensische Folklore arbeitet er scharf heraus, er formt einen dichten Trauergesang und unterstreicht im Finale die absurd-brutale Monotonie.

© SZ vom 25.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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