Kurzkritik:Aberwitzig

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Das Chris Potter Quartet brilliert in der Unterfahrt

Von Ralf Dombrowski, München

Den schnöden Beat hat Marcus Gilmore längst hinter sich gelassen. Der Enkel des Hardbop-Drummers Roy Haynes gehört zu einer Generation von Schlagzeugern, für die die polyrhythmische Unabhängigkeit längst zum Alltag geworden ist. Das bedeutet auch, dass er gerne viel spielt, Klangteppiche gestaltet, Ton-Kaskaden moderiert und kontrolliert und wild intuitiv zugleich einem Puls wie auch einem Basis-Groove folgt. Damit ist er der passende Partner für einen Saxofonisten wie Chris Potter, der die Spielbarkeitsgrenzen von Tenor und Sopran erforscht, ohne die Ton- und Liniengestaltung an sich in Frage zu stellen.

Trotz irrwitziger Geläufigkeit und einer hörbaren enzyklopädischen Kenntnis der mit Charlie Parker beginnenden Traditionslinien der jazzenden Moderne, bleibt seine Musik einer Strenge verpflichtet, die sich Ekstase nur als Mittel zur Ausdruckssteigerung, nicht als Form der Entrückung leistet. Während Gilmore in der Unterfahrt den Eindruck hinterlässt, er könne einfach nicht anders, als es fortwährend laufen zu lassen, changiert Potters virtuoser Aberwitz zwischen Breitbeinigkeit und Etüdenhaftigkeit. Selbst Balladen werden zur Leistungsschau, wenn nicht der Geläufigkeit, so doch der Geschmeidigkeit von Linienbildungen und Tonformungen. Insofern ist es nur konsequent, sich einen Pianisten wie David Virelles in das Quartett zu holen, der im Vergleich zu der bis in Details präzisen Perfektion der Potter-Welt kraftgenialisch wirr erscheint.

Als Begleiter leise und zurückhaltend, gestaltet er als Solist poröse Motive, löst Harmonien in flächige, eruptive, manchmal auch sich dem Uhrwerk störrisch widersetzende Fragmente auf und hält auf diese Weise nicht mit Sportlichkeit, sondern Gestaltungsanarchie dagegen. Der Bassist Joe Martin schließlich verarbeitet seine Groove-Vergangenheit in ebenfalls strukturell autarken Mustern, die er umfassend ornamentierend und tendenziell zu dezent gemischt an die Gestaltungsopulenz seiner Partner anpasst. Insgesamt wird das Konzert damit zu einem Spiegel zeitgenössisch jazzmusikalischer Grenzzaunfindung. Denn viel besser und beeindruckender als das Chris Potter Quartet kann man eigentlich nicht spielen. Bewegender aber schon.

© SZ vom 18.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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