Kurzkrimi:Katzenbachs Ende

Lesezeit: 7 min

Ein Mann in Manhattan mit lauter Fragen im Kopf. Bis er abdrückt und aus seinen Fragen Antworten macht.

Von Simon Urban

Katzenbach würde sterben, in weniger als einer Stunde, und zwar genau wie alle anderen auch: Mit einem Schuss in den Hinterkopf und einem zweiten Schuss ins Herz. Richter zurrte das Schulterhalfter fest, steckte die Sonnenbrille in die Brusttasche und zog noch einmal das Foto aus dem Notizblock. Er schloss die Augen und dachte: Jonathan Katzenbach, Hotel Edison, 47. Straße, siebter Stock, Zimmer 1021, Ankunft 23.4. gegen 14 Uhr, Treffen mit dem Anbieter zwischen 17 und 19 Uhr, Kameras nur in den Fahrstühlen und am Eingang, kein Wachpersonal, keine Besucheranmeldung, Zimmer am Ende des Ganges, Nebenraum angemietet auf den Namen Werner Henker. Die in Amsterdam hatten Humor. Richter drehte das Foto um und sah in Katzenbachs feistes Gesicht. Katzenbach stand mit freiem Oberkörper auf einer Terrasse, vielleicht irgendwo in Griechenland, hinter ihm Olivenbäume und ein Stückchen dunkelblaues Meer. In Katzenbachs rechter Hand ein Weinglas, unter seiner linken Achsel eine zusammengerollte Tageszeitung. Der Schatten des Fotografen auf dem Steinboden. Katzenbach ein braun gebrannter, glatzköpfiger Koloss, der so breitbeinig auf diesem Fotografenschatten steht, als hätte er den gerade besiegt. Katzenbach konnte man nicht verwechseln. Richter zerriss das Bild und spülte es in der Toilette herunter. Dann zog er den Mantel an, schloss sein Zimmer ab, fuhr mit dem Fahrstuhl in die Hotelhalle und war Sekunden später auf der Fifth Avenue.

Er ist ein Oberstleutnant der Staatssicherheit, der zum Auftragskiller wird

Ich bin ein Auftragsmörder, dachte Richter. Ein Auftragsmörder, der mit einer geladenen Waffe durch New York läuft und in etwa einer Dreiviertelstunde einen Mann in den Hinterkopf schießen wird. Richter musste lächeln. Solche Sätze würden jetzt kommen, genau wie bei den anderen Jobs auch. Und zwar nicht, weil er sich selbst gerne einen Auftragsmörder nannte. Nicht aufgrund irgendwelcher abstrusen Machtgefühle. Sondern weil diese Auftragsmördersätze ihm dabei halfen, seine Situation zu erfassen. Weil sie es möglich machten, einen objektiven Außenblick auf seine Lage zu bekommen. Weil diese Auftragsmördersätze unbestechliche Standortbestimmungen waren. Fakten, die einen davor bewahrten, sich zu sicher oder zu unsicher zu fühlen. Die keinen Platz für Euphorie oder Angst ließen. Richter ahnte: Diese Auftragsmördersätze waren es, die sein Leben retteten und das der anderen beendeten. Wie ein pathologischer Rechner kam er sich vor. Wie ein Rechner, der die Fifth Avenue hinunterschlendert, angerempelt wird, an Ampeln warten muss, seine Schrittgeschwindigkeit der Masse anpasst. Und der dabei gezwungen ist, in immer neuen Varianten die bekannten Fakten zu taxieren: Ich bin ein 55-jähriger Mann, der in weniger als einer Stunde einen 59-jährigen Mann erschießen wird. Ich bin ein ehemaliger Oberstleutnant der Staatssicherheit, der gleich einen Waffenhändler aus Jerusalem umbringt. Ich bin ein bezahlter Killer, der rund zweieinhalb Kilometer zu Fuß zu seinem Opfer geht und ihm mit jeder Sekunde näher kommt. Mein Name ist Richter, der des anderen ist Katzenbach.

Richter wusste, bei seinem ersten Mord waren ihm diese Sätze noch zuwider gewesen. Da hatte er diese Sätze für eine unerträgliche Angeberei gehalten. Trotzdem waren sie aus ihm herausgekommen, einer nach dem anderen. So lange, bis er abgedrückt hatte. Bis sämtliche Sätze mit einem leisen Plopp wahr wurden und der schmächtige blonde Mann stumm nach vorne fiel, sich noch einmal krümmte und tot war. So lange, bis er den umgedreht und ihm aus kurzer Distanz ins Herz geschossen hatte, weil in diesem Beruf nichts lukrativer war als absolute Verlässlichkeit. Erst viel später hatte Richter eingesehen, dass er diese Sätze brauchte. Dass dieses permanente Formulieren nichts Krankhaftes war, kein egozentrischer Größenwahn, sondern, im Gegenteil, ein Zeichen von Gesundheit. Dass er auch nach Jahren in der Armee, nach mindestens einem tödlichen Schuss als Soldat des DDR-Grenzkommandos Nord, nicht in der Lage war, einen Mord als Normalität zu betrachten. Dass er immer noch kein Mörder war, der zwischendurch das Leben eines Bürgers führte, sondern dass er ein Bürger war, der immer wieder zum Mörder wurde. Für seine Opfer, für die Ermittler, selbst für seine Auftraggeber war er natürlich eine Art Dauermörder. Einer, der immer nur an Mord dachte, der jederzeit morden konnte, der in jeder Lebenslage Mörder blieb. Für diese Menschen war er ein einkaufender Mörder, ein kochender Mörder, ein schlafender Mörder. Ein Mörder beim Friseur. Richter war trotzdem sicher, dass er sich nicht Mörder, sondern Bürger nennen durfte. Und zwar einen deutschen Staatsbürger, den die Geschichte betrogen hatte, auch wenn der Verweis auf diesen Betrug das wehleidigste aller Argumente war. Einen Bürger, den sein eigenes Land zum Teilzeitmörder gemacht hatte, mit einer jahrelangen Ausbildung im Teilzeitmorden. Richter wusste, dass er sich nach dem Fall der Mauer insgeheim selbst für einen Dauermörder gehalten hatte. Nur aufgrund dieses einen Schusses in den Rücken des Thüringers. Politiker, Journalisten und Juristen hatten Männer wie ihn innerhalb weniger Wochen vom regulären Soldaten einer Demokratischen Republik zum professionellen Killer im Dienst eines Unrechts- regimes umfunktioniert. Und damit zum Dauermörder. Die Schuld, die man kurz zuvor noch seine vaterländische Pflicht genannt hatte, wog im neuen Deutschland schwerer als russischer Panzerstahl. Und erst mit diesen selbstformulierten Sätzen, fünfeinhalb Jahre später in München, vor dem Schuss auf den Polen, war ihm klar geworden, dass niemand das Recht hatte, ihn einen Dauermörder zu nennen. Weil ein Dauermörder nicht jedes Mal wieder fassungslos ist, wenn er sich auf den Weg macht, um ein Menschenleben auszulöschen. Weil ein Dauermörder eine Maschine ist und kein Bürger.

"Aus dem Weg Kleiner, oder ich mach Kleinholz aus dir!" (Foto: Hans Hillmann/Avant-Verlag)

Er ist ein ausgebildeter Teilzeitmörder, der mit einer scharfen Waffe herumläuft

Ich bin ein staatlich ausgebildeter Teilzeitmörder, der mit einer geladenen Waffe durch New York läuft und in etwa einer Dreiviertelstunde einen Mann in den Hinterkopf schießen wird, dachte Richter. Von diesem Satz ausgehend ließ sich alles formulieren. Jeder Blickwinkel, den man auf seine momentane Lage haben konnte: Ich bin ein unverheirateter Mann, der gleich einen verheirateten Mann umbringt. Ich bin ein grauhaariger Mann, der gleich einen glatzköpfigen erschießt. Ich bin ein Mann, der als Teilzeitmörder nach 1995 fast ausschließlich Männer umgebracht hat, die selbst Mörder oder Auftraggeber von Morden waren. Ich bin ein Atheist, der gleich einen Juden ermordet. Ich bin ein Deutscher, der gleich einen Israeli in den Kopf schießt. Richter stoppte an einer Straßenecke. Das hellrote Ampellicht leuchtete wie ein kreisrunder Blutfleck. Gelbe und schwarze Autos mischten sich, drängelten, hupten, gaben Gas, bremsten. Die Ampel sprang auf grün, der Blutfleck verschwand, alles setzte sich gleichzeitig in Bewegung.

Richter rechnete. Katzenbach war der erste Israeli und würde vermutlich der einzige bleiben. Katzenbach war ein Jude. Richter tastete nach der Waffe unter seinem Jackett. Ich bin ein Deutscher, der in New York einen Juden erschießt, dachte Richter. Dieser Gedanke ließ sich nicht gegen einen anderen auswechseln. Dieser Gedanke drehte sich im Kreis. Richter wusste, wie lächerlich das war. Wirschek, der Pole, könnte Jude gewesen sein. Über seine Konfession war damals nichts mitgeteilt worden. Ob Wirschek Christ oder Moslem oder Jude oder Buddhist oder ein Fan des Spaghettimonsters gewesen war, hatte damals keine Rolle gespielt. Katzenbach war Jude, das hatte in seinem Profil gestanden. Bei Katzenbach gab es keinen Zweifel. Aber was konnte Katzenbach für ein Jude sein? Ein Papier-Jude. Ein Alibi-Jude. Ein Jude, der mit Waffen handelte und früher mit Drogen gehandelt hatte. Ein Jude, der kein Opfer war, obwohl er Jude war. Durfte man so was denken? Natürlich durfte man das. Katzenbach war ein Täter-Jude. So. Ein Täter-Jude, der gleich von einem Teilzeitmörder exekutiert werden würde. Spezielle Kombination, zugegeben. Ich bin ein Deutscher, der in New York einen Juden erschießt, dachte Richter und fragte sich, warum er jetzt mit diesem Satz im Kreis laufen musste. Warum er nicht weiterrechnen konnte wie immer. Über Katzenbach hatte im Dossier gestanden, er sei regelmäßiger Bordellbesucher. Es ließe sich also der Satz formulieren, dass gleich ein Mann, der in seinem Leben noch nie ein Bordell betreten hat, einen Bordellgänger erschießt. Doch diesen Satz hatte Richter bewusst konstruiert. Dieser Satz war nicht aus ihm herausgekommen, von alleine, als Teil einer beständigen Abfolge automatischer Situationsberechnungen. Ich bin ein Deutscher, der in New York einen Juden erschießt, dachte Richter. An diesem Satz hing er jetzt fest. Und wenn der Satz ganz anderes formuliert werden müsste? Ich bin ein Deutscher, der in New York einen Juden nicht erschießen kann, weil er Jude ist, dachte Richter. Das klang nicht nur lächerlich, sondern auch falsch.

Richter bog in die 47. Straße ein. Der Schriftzug HOTEL EDISON reichte über die komplette Fassade. Wie an einer Schnur hingen die einzelnen Buchstaben untereinander, das N einen knappen Meter über dem Vordach aus rotem Stoff. Richter schob sich durch die Drehtür in die Lobby. Bunter Teppich mit grellem Muster, eine hellblaue Decke mit weißem Stuck, rosa Wände. Brahms, oder etwas, das wie Brahms klang, aus versteckten Lautsprechern. Richter blieb stehen und sah sich um. Männer mit Koffern und Aktentaschen, ältere Damen in tiefen Ledersesseln, Pagen in weinroten Uniformen. Brahms wurde lauter, Richter ging zu den Aufzügen. Ich bin ein Deutscher, der in wenigen Minuten einen Juden erschießt, dachte Richter, dann hielt ihn jemand am Ärmel fest. Richter drehte sich um. Zwei Polizisten kamen durch die Drehtür in die Lobby. Sir, sagte der Page zu Richter und deutete auf die Rezeption. Richter ließ sich abführen. Immer in Bewegung bleiben. Die Drehtür konnte zur Falle werden. Das Überraschungsmoment nutzen. Der Page hatte ihm sanft eine Hand auf den Oberarm gelegt. Wie ein Ehepaar gingen sie in Richtung Marmortresen. Eng beieinander. Die Hand des Pagen war leicht. Hinter dem Tresen Schlüsselfächer aus dunklem Holz, ein weißhaariger Mann mit Hornbrille. Die Polizisten kamen näher. Richter hatte das Gefühl zu schweben. Quer durch die Lobby. Genau dahin, wo dieser Page ihn haben wollte. Ich bin ein Deutscher, der in Amerika eine registrierte Waffe trägt, dachte Richter. Ich bin legal eingereist, ich habe alle erforderlichen Papiere, ich habe den Waffenschein. Katzenbach kennt mich nicht. Der Page deutete auf den Weißhaarigen mit Hornbrille und lief zurück zu den Aufzügen. Zwei andere Pagen sperrten die Treppe ab. Alle Hotelgäste wurden jetzt abgefangen und zur Rezeption dirigiert. Richter stand direkt neben den Polizisten.

Simon Urban

1 / 1
(Foto: Schöffling Verlag)

Der Autor, geboren 1975 in Hagen, lebt in Hamburg. Sein Debütroman "Plan D", eine Krimi-Dystopie, in der die DDR nie untergegangen ist, wurde in elf Sprachen übersetzt. Im vergangenen Jahr erschien sein drittes Buch, der "gottlose" Roman "Gondwana".

7th floor, sagte der Weißhaarige. A hairdryer. In the bathtub.

Name?, fragte der kleinere Polizist.

Mr. Kätzenbäck, antwortete der Weißhaarige.

Richter hatte das Gefühl, er schwebe noch immer. Nur eine kleine Berührung und er würde abheben. Die beiden Polizisten drehten die Köpfe.

Hotel Murray Hill?, fragte Richter.

This is Hotel Edison, sagte der Weißhaarige. Murray Hill is right next door.

Richter nickte, drehte sich um, schwebte davon. Brahms war von Mozart abgelöst worden. Die Drehtür trug immer mehr Polizisten herein. Die Hotelgäste starrten ihnen entgegen.

Er ist ein Deutscher in einem Hotel, der gleich einen Mann töten wird

Der Glatzenträger Katzenbach hat sich mit einem Föhn umgebracht, dachte Richter. Oder Katzenbach hatte sich gar nicht selbst umgebracht, und Amsterdam hatte noch einen zweiten Teilzeitmörder geschickt. Einen, der es wie Selbstmord aussehen lassen sollte. Und der nicht wusste, dass Katzenbach eine Glatze hatte. Und dem diese Glatze auch nicht aufgefallen war, als er Katzenbach in die Wanne gezwungen und den Föhn hinterhergeworfen hatte. Das passiert, dachte Richter, wenn man seine Situation nicht berechnet. Weil man glaubt, schon alles zu wissen. Oder weil man sich davor fürchtet zu stolpern. Gut möglich, dass sein nächster Auftrag einem Kollegen galt.

Ich bin ein deutscher Bürger mitten in Manhattan, dachte Richter. Die Ampeln am Times Square standen auf Grün. Überall blinkten Lichter. Auf einem riesigen Monitor lief eine Shampoo-Werbung.

© SZ vom 14.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: