Kunstpolitik:Kultur oder Monokultur

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Am 23. Juni dürfen die Briten per Referendum darüber entscheiden, ob sie weiterhin in der EU bleiben oder nicht. Ein Austritt würde sich allerdings fatal auf die Kunstproduktion des Landes auswirken, für die Europa der wichtigste Markt ist.

Von Alexander Menden

Keine Produktion hat in den letzten Jahren die britische Theaterszene so nachhaltig gespalten, wie "Three Kingdoms" von Simon Stephens es 2012 tat. Die Kritik geißelte nahezu einhellig die Gemeinschaftsarbeit des Lyric Hammersmith mit den Münchner Kammerspielen und dem estnischen Theater N099 als willkürlich undurchdringliche Nabelschau. Jüngere Kommentatoren, vor allem die Blogger, waren exakt gegenteiliger Ansicht. Sie nannten das Stück über den europäischen Sexhandel und die Inszenierung des deutschen Regisseurs Sebastian Nübling "traumhaft" und "das beste Theatererlebnis des Jahres".

Was "Three Kingdoms" so einschneidend machte, war die Entschlossenheit, mit der die Produktion eine als "kontinental" empfundene Ästhetik auf eine britische Bühne brachte. "Dabei war es alles zugleich", sagt Sean Holmes, Künstlerischer Leiter des Lyric Hammersmith, im Rückblick: "Estnisch und deutsch und britisch. Theater ist eine aus der Zusammenarbeit resultierende Kunstform, und diese Stärke macht sich gerade bei der Arbeit über nationale Grenzen hinweg bemerkbar."

Der Einfluss von "Three Kingdoms" auf die Arbeit jüngerer britischer Theaterregisseure ist nicht von der Hand zu weisen. Genauso unleugbar ist aber auch der anhaltende Widerstand der meisten Kritiker gegen vermeintlich zu textferne Inszenierungen wie zuletzt Joe Hill-Gibbins' brillante Version von Shakespeares "Maß für Maß" am Young Vic, die wie ein selbstbewusstes britisches Stiefkind der Berliner Volksbühne daherkam. Der Dramatiker Simon Stephens selbst vergleicht diese ablehnende Haltung gern mit dem gleichen Misstrauen, das englische Fußballfans in den Achtzigerjahren gegenüber europäischen Fußballern - und alle Briten in den Siebzigern gegenüber europäischem Essen - hatten. "Ohne es allzu sehr verallgemeinern zu wollen", sagt Sean Holmes, "glaube ich, dass der Grad der Offenheit für europäische Einflüsse sehr stark vom Alter abhängt. Die jüngeren Briten haben einfach ein viel offeneres Verhältnis zum Kontinent, vor allem, weil es für viele von ihnen selbstverständlich ist, dorthin zu reisen."

Ein nicht nur ästhetisches Tauziehen also, in dem sich die Anziehungs- und Abstoßungskräfte einer viel breiteren und fundamentaleren Frage manifestieren: Was ist der Ort der britischen Kultur, der britischen Kunstproduktion im europäischen Kontext? Nun, da Premier David Cameron sich daheim als Sieger in den Neuverhandlungen über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens präsentieren kann, nun, da feststeht, dass das Referendum zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union am 23. Juni stattfinden wird, folgt die nächste Frage: Wenn sich die Mehrheit der Briten für einen Austritt entscheiden sollte - welche Folgen hätte dieses Ergebnis für das britische Kulturleben?

Was den Kulturaustausch mit dem Kontinent angeht, ist es nicht leicht, eine klar umrissene Antwort zu geben, solange unsicher ist, wie diese formelle Abtrennung sich auf die entsprechenden internationalen Regularien auswirken würde. Laut Alex Beard, dem Geschäftsführer des Royal Opera House in London, würde "alles, was es uns erschwert, mit der EU zusammenzuarbeiten, unseren laufenden Betrieb schädigen": Zölle, Einwanderungsbeschränkungen oder Visabestimmungen. "Die Mehrheit unserer Partner für Koproduktionen sind Europäer", so Beard, "ebenso wie eine bedeutende Minderheit unserer Mitarbeiter auf allen Ebenen."

Dazu zählen übrigens nicht nur Sänger, Tänzer und Bühnenbildner, sondern auch der scheidende Künstlerische Leiter des Royal Opera House, der Däne Kasper Holten. Ähnlich sieht es an vielen der bedeutendsten Londoner Institutionen aus, besonders an den Museen: Die Tate Modern leitet (noch) der Belgier Chris Dercon, das Victoria & Albert Museum Martin Roth und das British Museum bald Hartig Fischer, beide sind Deutsche. Den Chefposten der National Gallery übernahm vergangenes Jahr der Italiener Gabriele Finaldi.

Tatsächlich ist die EU der wichtigste Markt für britische Kulturprodukte

Wie so oft, wenn es in Großbritannien darum geht, für die nationale Bedeutung von Kunst und Kultur zu werben, ziehen die Befürworter einer EU-Mitgliedschaft vor allem wirtschaftliche Argumente heran. Tatsächlich ist die EU wichtigster Markt für britische Kulturexporte, sei es Musik oder Film. Zugleich würde einem zunehmend von Subventionskürzungen betroffenen Bereich der Zugang zu EU-Fördertöpfen abgeschnitten. Dem "Creative Europe"-Programm zum Beispiel, dem bis 2020 ein Budget von 1,46 Milliarden Euro zur Verfügung steht, und das allein vergangenes Jahr 54 Kulturprojekte mit britischer Beteiligung finanzieren half. Oder dem Europäischen Fond für regionale Entwicklung, ohne den vor allem zahlreiche kleinere Kulturprojekte im Norden Englands längst den Geist aufgegeben hätten.

Dem halten diejenigen, die für einen Austritt plädieren, entgegen, die EU sei dem kulturellen Leben Großbritanniens keineswegs förderlich, sondern ein Hemmschuh. Auch hier sind die Argumente vordergründig wirtschaftlicher Natur. Laut Harriet Bridgeman von der Kampagnengruppe "Vote Leave" zahlt das Vereinigte Königreich seit mehr als 40 Jahren netto mehr in die EU ein, als es herausbekommt. Durch einen Ausstieg würden Mittel frei werden, die man dann in die nationale Kulturförderung investieren könnte, so Bridgeman in einem Beitrag für das Arts Professional Magazine.

Im gleichen Text ruft sie zur Rettung der "kulturellen britischen Identität" auf: "Die EU hat eindeutige Absichten, wenn es um Kultur geht und will ihren Einfluss ohne Rücksicht auf die Kosten ausdehnen. Die Eurokraten wissen genau, dass sie desto mehr Kontrolle über das Leben der Menschen ausüben können, je mehr sie sie dazu bringen, sich immer 'europäischer' ' zu fühlen. Das Streben nach einer EU-Kultur hat sogar die Marke 'Made in Britain' in Gefahr gebracht."

Hinter all dem steht ein Kampf zwischen integrativen und isolationistischen Kräften

Hier stößt man zum eigentlichen Kern der Austritts-Debatte vor. Hinter all dem vordergründig rationalen Für und Wider über Kulturexporte und Fördertöpfe steht ein zutiefst emotionaler Kampf zwischen integrativen und isolationistischen Kräften. Die Deutungshoheit über das Kulturleben und damit die kulturelle Identität würde auch die Deutungshoheit über die nationale Selbstwahrnehmung bedeuten - im Falle des Vereinigten Königreiches allerdings weniger diejenige aller Briten als speziell die der Engländer. Denn sie haben noch immer keinen psychologischen Ausgleich gefunden für den allmählichen Verlust ihrer Dominanz innerhalb des multinationalen und multikulturellen britischen Gefüges.

Ein EU-Austritt würde durchaus zusammenpassen mit dem neuerdings an britischen Schulen gelehrten Bildungskanon. Er ist linear und monokulturell: Shakespeare und die Viktorianer als Vorbilder für die ganze Welt. Eingeführt wurde er vom ehemaligen Bildungs- und heutigen Justizminister Michael Gove. Als eines von fünf Mitgliedern des Cameron-Kabinetts spricht er sich ausdrücklich für einen EU-Austritt aus. Von dieser Warte aus hat eine Inselnation, die sich selbst immer wieder versichert, das beste Theater, die besten Museen, die besten Orchester und die beste Popkultur der Welt zu haben, die EU-Mitgliedschaft einfach nicht nötig. Diese Insel exportiert ihre Kultur in alle Welt, nicht nur ins kleine Europa, und sie ist nicht auf kulturelle Importe angewiesen. Sollte sich diese Auffassung durchsetzen, wäre langfristig eine Verengung und Verarmung des britischen Kulturlebens vorgezeichnet.

"Das Tragische an der derzeitigen Entwicklung in ganz Europa ist doch die Abwendung von den Gemeinsamkeiten und die Hinwendung zu immer enger umgrenzten nationalen Interessen", sagt Sean Holmes. Großbritannien bildet dabei keine Ausnahme, tatsächlich war die instinktive Reaktion der Engländer auf politische Probleme schon immer, sich einzuigeln. "Die einzig richtige Reaktion der britischen Kulturschaffenden", sagt Holmes, "wäre es, jetzt deutlich zu machen, wie dumm ein Ausstieg wäre." Viel Zeit bleibt dafür nicht mehr.

© SZ vom 22.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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