Kunst:Sommerschlaf

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Weltflucht in Orange: Frederic Lord Leightons "Flaming June", das etwa 1895 entstandene Ölgemälde, ist mitsamt Vorzeichnung in New York in der Frick Collection zu sehen.

Von Peter Richter

Ganze 167 000 Pfund hat der Kopf dieser Dame dem Auktionshaus Sotheby's in London jetzt eingebracht, 239 000 Euro. Geschätzt war die kürzlich aufgefundene Porträtskizze für Frederic Lord Leightons "Flaming June" auf 40 000 bis 60 000 Pfund. Es ist ein neuer Rekord für eine Papierarbeit dieses Künstlers.

Der Sammler, dem das so viel Geld wert war, soll Amerikaner sein. Man weiß nicht, ob er zufällig New Yorker ist. Aber man könnte es sich gut vorstellen. Denn in New York ist das eigentliche Gemälde gerade zu Gast. Es hängt seit ein paar Wochen in der Frick Collection, und obwohl es "Flaming June" heißt und nicht "Flaming July" entfaltet es hier seine hypnotische Wirkung so richtig erst in diesen Tagen. Was diese Frau da macht, würde jeder in New York bei dieser schwülen Sommerhitze jetzt gerne machen, der nicht das Pech hat, in der City ausharren zu müssen: Am gleißenden Meer unter einem Sonnenschutz herumlümmeln, ein bisschen am Oleander schnuppern, anschließend in ein Nickerchen gleiten. Das Bild schildert im Prinzip exakt das, was die, die sich das leisten können, zur Stunde in ihren Strandvillen auf Long Island machen. Vielleicht, wer weiß, trägt die eine oder die andere Bewohnerin der Upper East Side zu diesem Zweck sogar das Kleid von Olivier Theyskens, damals noch für das Label Theory tätig, aus der letzten Sommersaison noch einmal auf, in welchem Jessica Chastain damals auf dem Cover der amerikanischen Vogue "Flaming June" gespielt hat. Eine wunderbare Nachinszenierung des Gemäldes durch Annie Leibovitz war das. Weil es unter den Leserinnen und Lesern der Vogue aber offensichtlich auch solche gibt, denen selbst populärste Kunstwerke nichts sagen, fehlte es nicht an Beschwerden über das viel zu orangestichige Kleid an dieser ja doch sehr rothaarigen Schauspielerin.

Der Maler wirft seinem Modell gewissermaßen einen lachsfarbenen Nudelsalat über

Ansonsten ist "Flaming June" aber heute jedenfalls in der englischsprachigen Welt eines der bekanntesten viktorianischen Gemälde. Nicht, dass es immer und überall und von jedem deswegen auch geschätzt worden wäre, im Gegenteil. Gerade das Reisebüroprospekthafte dieser Szene hat immer auch Kritiker gefunden, die darin Kitsch und verschwiemelte Falschheit sahen. Angesichts der sozialen Verwerfungen infolge der Industrialisierung, die ja auch in die lange Regierungszeit der Königin Victoria fielen, kann man tatsächlich nur staunen, mit welcher Entschlossenheit die meisten englischen Künstler der Epoche ihre Augen lieber in ein märchenhaftes Mittelalter oder solche südlichen Fantasieparadiese gerichtet haben, auch wenn das eine natürlich nur eine Reaktion auf das Gegenteil gewesen sein mag. Demnach wäre jeder Burgturm im Grunde ein sublimierter Fabrikschornstein und die Rast in "Flaming June" die heimliche Sehnsucht der Betriebsamkeit jener Zeit.

Die Kunstgeschichte und in ihrem Gefolge der Kunstmarkt hatte lange Zeit nicht mehr viel übrig für diese Art von Bildern, die in der Akademie für den Salon gemalt wurden, während Impressionisten und Sezessionisten die Welt jenseits der Ateliertür ins Auge fassten. Und Frederic Lord Leighton war, wenn man so will, der Inbegriff des akademischen Salonmalers. Er war, als er "Flaming June" 1895 kurz vor seinem Tod in der Royal Academy ausstellte, sogar deren Präsident, ein vollbärtiger Honoratior, der mit antikisch einherschreitenden Wuchtbrummen zu Reichtum, Ruhm und schließlich Adel gekommen war. Aber dass er von den neumodischen Pariser Freiheiten der Pinselführung nicht gänzlich unbeleckt geblieben war, das zeigt sich, wenn man jetzt in der Frick Collection dem Bild, das nie auch nur annähernd farbkorrekt abgedruckt wird, mal im Original nahekommen darf. Das Licht auf dem Wasser ist so dick und taktil aufgespachtelt, dass man es am liebsten mit Händen greifen würde. Und die Falten des berühmten orangefarbenen Gewandes, mit dem Leighton sein Modell so sorgfältig eingepackt hat, dass die Nacktheit darunter umso deutlicher inszeniert wird, haben bei näherem Hinsehen eher die Anmutung von weich gekochten Farb-Tagliatelle als von den akademisch hingezirkelten Faltenwürfen seiner früheren Werke. Dass Leighton seiner Nackten also gewissermaßen einen lachsfarbenen Nudelsalat übergeworfen hat, hat das Bild aber erst berühmt gemacht und ihm seinen Namen verschafft.

Das deutsche Gegenstück zu diesem Werk wären Anselm Feuerbachs Frauenfiguren

Wer das Modell war, weiß man eigentlich erst, seit jetzt die Vorzeichnung des Gesichtes wiedergefunden wurde: Leightons Langzeit-Muse Ada Alice Pullan, die sich als Schauspielerin und Malermodell Dorothy Dene nannte. Gefunden wurde das Blatt vergangenes Jahr im Nachlass der Herzogin von Roxburghe, wo es selbst die Zeiten überdauert hatte, in denen viktorianische Kunst mitleidlos dem Trödler übereignet wurde. Der Musicalkomponist Andrew Lloyd Webber will "Flaming June", das Gemälde, 1962 bei einem Londoner Antiquar gesehen haben. Zum Preis von 50 Pfund. Seine Großmutter habe sich aber geweigert, ihm so viel Geld zu borgen. ("Der viktorianische Schund kommt mir nicht in die Wohnung.") Ein Jahr später erwarb es dafür ein früherer Gouverneur von Puerto Rico für immerhin schon 2000 Pfund und nahm es mit auf seine Insel, wo es die Leute nach den Vorstellungen vieler Festlands-Amerikaner das ganze Jahr über nicht anders halten als die dargestellte Britin bei ihrem imaginierten Mittelmeerurlaub. Dass über Puerto Rico, das zwar formal nicht wirklich zu den USA gehört, aber dennoch den Dollar hat, in den Vereinigten Staaten zur Zeit tatsächlich ganz ähnlich gesprochen wird wie in Nordeuropa über Griechenland, das ist genauso wenig ein Zufall wie der Umstand, dass sich ein Bild wie dieses umstandslos auch zur Illustration von Gegenwartsthemen in den Dienst nehmen lässt. Dafür ist symbolistische, ins Überzeitliche zielende Kunst prädestiniert.

Ein sehr deutsches Gegenstück zu Leightons Dösender wären in diesem Zusammenhang übrigens am ehesten die Iphigenien von Anselm Feuerbach, etwa die in der Staatsgalerie Stuttgart: schwere, verbissen aufs Wasser starrende Matronen, "Griechenland mit der Seele suchend", wie Goethe das ausgedrückt hat. Auch diese Bilder erzählten natürlich in erster Linie von den Sinnstiftungssehnsüchten wirtschaftlich brummend erfolgreicher Gründerzeit-Industrieller.

Der entscheidende Unterschied ist: Iphigenie projiziert; die Schöne in "Flaming June" entspannt. Daraus - und aus dem unterschiedlich großen Welterfolg beider Bildformeln - kann jetzt tagespolitisch jeder ableiten, wonach ihm der Sinn steht.

Von der Frick Collection lässt sich noch berichten, dass dort das süße Nichtstun auch sonst gerade ein Grund zur Freude ist. Dieses Frühjahr hatte das Haus ehrgeizige Erweiterungspläne angekündigt. Das Schloss des Kokskönigs Henry Clay Frick, zu Lebzeiten ein so brutales Unternehmerscheusal, dass viktorianische Märchenmaler, die es in Amerika nicht gab, schon feuerspuckende Drachen hätten malen müssen, um ihm biografisch gerecht zu werden; dieses Schloss an der Fifth Avenue also sollte einen hohen Anbau bekommen, wo jetzt ein verträumter Innenhof mit Garten ist. Das Museum empfand Wachstumsnotwendigkeit. Alle New Yorker Museen empfinden die, und zwar dauernd, denn sie sehen sich als privatwirtschaftliche Betriebe auf einem hitzig umkämpften Markt. Aber in diesem Fall sagten so viele einflussreiche New Yorker "Och nö", dass jetzt alles ausnahmsweise mal so bleiben darf, wie es ist. Das ist ein seltenes Glück. Denn die Frick Collection, so wie sie ist, ist das mit Abstand schönste Museum von New York. Mit "Flaming June" als Sommergast ist sie erst recht der angenehmste Ort, an dem man sich hier in diesen Tagen aufhalten kann, sofern man nicht selbst über eine Terrasse am Meer verfügt.

L eighton's Flaming June, Frick Collection, New York, bis 6. September, www.frick.org .

© SZ vom 21.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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