Kunst:Nackte Ruhe

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Walker Evans schuf mit seinen Bildern von der Großen Depression Ikonen der modernen Fotografie. Eine Ausstellung in Bottrop zeigt jetzt das Gesamtwerk des großen amerikanischen Realisten.

Von Catrin Lorch

Kein Gesicht ist so vertraut, dass man es beim Wiedersehen nicht doch neu ausforscht. Wenn es Veränderungen gibt, hilft häufig die Fotografie beim Vergleich. Und auch diese Frau sieht wieder anders aus: Ihr verbrauchtes Gesicht wirkt freundlicher, als man es in Erinnerung hatte. Aber fehlen nicht noch ein paar Zähne? War ihr Haar einst nicht straffer zusammengebunden?

Doch es gibt keinen Vergleich - das hier ist das Foto. 1936 während den Jahren der großen Depression aufgenommen, wurde Walker Evans' Aufnahme "Alabama Cotton Tenant Farmer Wife" zu einer ersten Ikone der Fotografie. Namenlos, ohne Hinweis auf ihre näheren Lebensumstände, stellte der Fotograf sie vor eine ausgeblichene Holzfassade und überließ sie ihrem Schicksal.

Ist es ihr Haus, in dem er kurz davor oder danach fotografiert hat? Es ist karg möbliert, die Ziegel des Kamins sind schief, die Rohre des Messingbetts stumpf. Die Not hat sich hier eingerichtet; hier haust keine Katastrophe und auch kein Einzelschicksal, es ist eine Welt aus Wachstuch, Lumpen und Altholz, in der Lebensläufe schon mal früh im Staub enden: "Child's Grave, Hale County, Alabama", das Kindergrab liegt quer im Bild, als krümeliges, gerade mal zusammengekehrtes Grau.

"Wir sehen, was wir bis dahin nicht bemerkt hatten: uns selbst, wertgeschätzt in unserer Anonymität", bemerkte der Schriftsteller William Carlos Williams, als diese Aufnahmen zum ersten Mal ausgestellt wurden. Der im Jahr 1903 geborene Walker Evans wollte eigentlich auch Schriftsteller werden. Die Literatur erschien ihm als ein Ausweg aus dem puritanischen Wertekanon des Mittleren Westens, in dem geistige Unabhängigkeit und Sensibilität nichts galten. Der Schulverweigerer hatte sich aber am Williams College eingelesen in die Franzosen von Baudelaire bis Proust und Amerikaner wie T. S. Eliot und E. E. Cummings entdeckt. Damals habe er sich schon "Flauberts Methode unbewusst einverleibt", dessen Realismus und Objektivität, erzählte er einmal. Dennoch verabschiedete Walker Evans sich nach einem Aufenthalt in Paris von seinem Berufswunsch; gleich nach seiner Rückkehr begann er in New York mit der Kamera zu arbeiten.

Mit diesem Moment setzt die Ausstellung "Tiefenschärfe" im Museum Quadrat in Bottrop ein, die erste umfassende Retrospektive dieses vielleicht bedeutendsten Fotografen des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Eine schöne Volte, denn das Museum im nördlichen Ruhrgebiet besitzt viele Werke des Bauhaus-Meisters Josef Albers, der als Lehrer die amerikanische Kunst maßgeblich prägte. Umgekehrt eignete sich der Amerikaner Evans die Abstraktionen der Bauhaus-Fotografie an, studierte die Dynamik der sowjetischen Avantgarde und war mit der sachlichen Typenfotografie von August Sander vertraut.

Auch Walker Evans wählte zunächst extreme Perspektiven; er verabschiedete sich aber bald von solchen Effekten. Von einer Reise nach Kuba brachte er Aufnahmen von Arbeitern in dreckigen Overalls mit, von Slums, Hinterhöfen und mit Plakaten zugeklebten Kinofassaden. Evans' Fotografien sind unübersehbar künstlerisch und haben doch nichts mit dem malerischen Stil zu tun, der in den USA von Edward Steichen und Alfred Stieglitz kultiviert wurde. Evans schmähte diesen Stil als "Artiness".

Neu waren damals nicht nur Evans' Sujets, es war auch sein Blick, der sich durch "Distanz, Ökonomie, intellektuelle Schärfe" auszeichnet, wie Heinz Liesbrock, der Kurator der Ausstellung in Bottrop, schreibt. Die staatliche Farm Security Administration schickte Walker Evans bald in den Südosten der USA, wo Fotografen das Leben der durch die Große Depression verarmten Farmer und Kleinstädter dokumentierten. 1936 veröffentlichte Evans das Buch "American Photographs", das seinen Ruhm begründete, zwei Jahre später wurde er vom Museum of Modern Art in New York gefeiert.

Walker Evans, der Künstler, war danach nicht nur arrogant gegenüber seinen Konkurrenten, Auftraggebern und der Öffentlichkeit - er fühlte sich nicht einmal seinem Erfolg verpflichtet. Redaktionen, die seine Motive für politische Reportagen haben wollten, beschied er, man solle doch erst einmal die aktuelle Produktion seiner Kollegen wegdrucken und sich seine Aufnahmen für die Zukunft aufheben. Statt nachzuliefern, widmete er sich anderen Projekten, etwa einer eigenartigen Serie von Männern, Büroangestellten und Arbeitern, die in der Bottroper Ausstellung an der ersten Wand hängt: Offensichtlich auf dem Heimweg befindlich, bemerken sie den Fotografen gar nicht, der seine Kamera vor Fabriktoren aufbaut oder sie im kalten New Yorker Winter in der Knopfleiste seines Mantels verbirgt.

"Die Gesichter der Leute unten in der U-Bahn befinden sich in nackter Ruhe", schreibt Walker Evans über solche Porträts, die sich zu einer langen Galerie von Sitznachbarn reihen. Weder sind sie Flaneure, noch sind ihre Straßen Boulevards: In der "Nicht-Euphorie des Lebens", wie Walker selbst bemerkt, zeichnet er das Bild einer Gesellschaft, die gerade erst die Weite des neuen Kontinents mit Hochhäusern, Fabriken und Straßen zugemauert hat. Zusammengeschüttelt in Vorortzügen und Ford-Automobilen, bemerken diese Städter noch nicht, dass sie in einer Metropole angekommen sind. Evans zeigt es ihnen - er fotografiert Werbeschilder, Warenauslagen, Kreidetafeln, Hut-Auslagen, Parkplatzreihen.

Eine sorgfältige Aufarbeitung dieses Œuvres war mehr als überfällig. Als "graue Eminenz" der Fotografie ist Evans erst kurz vor seinem Tod in den Siebzigerjahren wiederentdeckt worden, eine ganze Generation - von Robert Frank bis William Eggleston und Stephen Shore - berief sich auf ihn. Das Metropolitan Museum, das seit den Neunzigerjahren einen großen Teil seines Nachlasses verwahrt, richtete ihm zuletzt im Jahr 2000 eine Ausstellung ein. Dass sich nun ein kleines Museum in Deutschland diesem Werk als Ganzem stellt - und die Ausstellung an zwei Folgestationen in den USA und Kanada vermittelte - ist auch ein Ausweis hiesiger Museumskultur.

Heute, vierzig Jahre nach seinem Tod, ist Walker Evans' Ruhm unumstritten. Und auch unter den Realisten des 20. Jahrhunderts ragt sein fotografisches Werk heraus. Evans, der früh gescheiterte Schriftsteller, hat letztlich auf das richtige Medium gesetzt. Auf einem "Selbstporträt" inszenierte sich der Künstler im Jahr 1929 mit einer leicht getönten Brille, sie scheint seine Augen in blind-seherische Instrumente zu verwandeln. Denn wo es um die Große Depression geht oder das junge Amerika, denkt man heute noch, im bildsüchtigen 21. Jahrhundert, zuerst an jene Frau eines Baumwollfarmers. Neben ihr, so scheint es, vergilben die Romanfiguren der zornigen Generation - von John Steinbeck bis Ernest Hemingway. Die Frau in ihrem verwaschenen Kleid bleibt unverwindbar.

Walker Evans. Tiefenschärfe. Die Retrospektive. Museum Quadrat, Bottrop. Bis 10. Januar 2016. www.quadrat-bottrop.de. Katalog (Prestel) im Museum 58 Euro, sonst 69 Euro.

© SZ vom 02.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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