Kunst im Nahen Osten:Dann war ich tot

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In Saudi-Arabien ist Kultur und Unterhaltung neuerdings Staatsdoktrin. Das Kunstfestival "21, 39 Jeddah arts" in Dschidda holt aus dem Befehl des Monarchen so viel heraus wie möglich.

Von Paul-Anton Krüger

Safar ist das arabische Wort für Reise; es wurde abgeleitet von einem anderen, das das Entschleiern bezeichnet. Safar steht also auch für das Entdecken, Erkunden - und ist das Motto der vierten Ausgabe von 21, 39 Jeddah arts, dem wichtigsten Festival für zeitgenössische Kunst in Saudi-Arabien. Die Zahlen - 21, 39 - bezeichnen die geografischen Koordinaten der Hafenstadt.

Die in München und New York lebenden Kuratoren Sam Bardaouil und Till Fellrath haben sich nicht darauf beschränkt, eine Ausstellung von 16 jungen saudischen Künstlerinnen und Künstlern zusammenzustellen, sie sind mit einigen von ihnen tatsächlich gereist - in die Galerien und Museen von Berlin und nach Südkorea. Für manche war es der erste Auslandsaufenthalt, für alle eine wichtige Inspiration. Nicht jeder in Saudi-Arabien kann es sich leisten zu reisen, nicht jeder, nicht jede traut es sich alleine. Die Vorbereitungsphase dauerte ein Jahr. "Wir wollten einen Prozess organisieren, einen Austausch", sagt Fellrath, "die Künstler zusammenbringen, die sonst oft isoliert und nur über soziale Medien miteinander vernetzt sind."

Die Werke sind nicht revolutionär, niemand kritisiert die Monarchie. Aber sie üben Gesellschaftskritik

Das gilt auch für den Kontakt mit dem überwiegend saudischen Publikum - Visa sind für Touristen nach wie vor kaum zu bekommen. Man sieht viele junge Frauen, mit Kopftuch oder ohne. Anders als in Iran ist die Kopfbedeckung in Saudi-Arabien offiziell nicht vorgeschrieben, die Abaja allerdings, ein Umhang, ist Pflicht. Dazu finden sich junge Männer mit Hipsterbärten, Hipster-Brillen, Hipster-Kameras ein - oder in weißer Thaub und Gutra, der traditionellen Kleidung.

Es gibt Workshops und Präsentationen, im Forum der Ausstellung diskutieren Künstler ihre Arbeiten zwischen einem Graffito, das Teil der Schau ist, und der Kaffeebar, die mit ihren Glaskolben an ein Chemielabor erinnert. So ist ein Raum für Begegnungen entstanden, offen für Männer und Frauen gleichermaßen. In Saudi-Arabien ist das eine Sensation. Das sturzkonservative soziale Ideal der saudischen Gesellschaft sieht die saubere Trennung der Geschlechter vor, Männer und Frauen begegnen sich bestenfalls in Einkaufszentren. Entsprechend groß ist die Sehnsucht nach sozialen Events.

Den Namen des Festivals kann man deshalb zugleich auf den Wandel im Königreich beziehen. Die Ölpreise sind niedrig, die absolute Monarchie muss sich neu erfinden, jedenfalls ein bisschen. Das Herrscherhaus hat eine ambitionierte Route definiert, die "Vision 2030". Sie soll Saudi-Arabien aus der Abhängigkeit vom Öl lösen, gesellschaftliche Öffnung ermöglichen. Jedenfalls ein bisschen. Die Förderung von Unterhaltung und Kunst ist neuerdings Staatsdoktrin, ebenso der Bau von Bibliotheken und Museen - natürlich im Einklang mit den Werten des Islam.

Dieser Aufbruch bleibt erwartungsgemäß nicht ohne Widerstand bei jenen, die sich zurückgelassen fühlen: Staatsbedienstete, denen die Gehälter gekürzt wurden, konservative Kleriker, die um ihren Einfluss fürchten und nun gegen provokante Kunst wettern - also eigentlich: gegen fast alle nicht-religiöse Kunst - oder gegen die Überlegungen, in Saudi-Arabien, man höre und staune, Kinos zu eröffnen.

Der überwiegende Teil der jungen Generation aber, immerhin mehr als die Hälfte der Bevölkerung, verlangt größere Freiräume, will ausprobieren, Neues, die eigene Identität erkunden. Auf den Smartphones tun die jungen Menschen dies so intensiv wie in keinem anderen Land. Kunst dagegen ist ein Ausdrucksmittel, das sich gerade erst etabliert. Dass saudische Künstler anderswo gefeiert werden, auf der Biennale in Venedig oder in Los Angeles, ändert an der Engstirnigkeit in ihrer Heimat nichts. Entsprechend gewagt ist es, wenn nun in den Räumen einer ehemaligen Shopping Mall Werke zu sehen sind, die zwar nirgends wahrhaft revolutionären Geist zeigen oder die Monarchie und den Islam infrage stellen wollen, aber sich doch oft kritisch mit dem Zustand der saudischen Gesellschaft auseinandersetzen und der lähmenden Frustration Ausdruck verleihen. Bayan Abdullateef etwa, 23, geht es in "My Most Precious" um die Degradierung von Frauen zu Objekten - eine Serie von zehn Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Streichholzköpfen, in Szene gesetzt wie Porträts. Inspiriert habe sie der Ausspruch ihrer Lehrerin. "Die Ehre eines Mädchens ist wie ein Streichholz", sagte diese: Einmal gebraucht, ist es wertlos. "Wenn man zwölf oder dreizehn ist und in seiner Lehrerin ein Vorbild sieht, versteht man nicht, wie toxisch das ist", sagt Abdullateef. "Andererseits: Selbst jedes der in Massenproduktion hergestellten Streichhölzer ist unterschiedlich" - sichtbar gemacht durch die Vergrößerung.

Frauen haben in Saudi-Arabien kaum Rechte, nicht mal das auf ihren Namen. Manal al-Dowayan hat für ihre multimediale Installation "Crash" Medienberichte, Fotos und Landkarten montiert, die tödliche Autounfälle von Lehrerinnen dokumentieren. Sie verunglücken auf der oft stundenlangen Fahrt zu ihren Schulen in entlegenen Dörfern; arrangiert sind die Exponate wie in einem Klassenraum. 25 Lehrerinnen starben im vergangenen Jahr bei Unfällen, 47 wurden verletzt. Nur vier wurden beim Namen genannt, ihre Gesichter wurden nie gezeigt.

Auf einem Monitor erzählt al-Dowayan über die letzte Fahrt einer Lehrerin aus der Ich-Perspektive, rekonstruiert aus Gesprächen mit Überlebenden. Morgengebet. Belanglose Unterhaltungen mit den Kolleginnen über Kinder, Essen. Crash. "Dann war ich tot!" Sie wolle die Wahrnehmungsroutinen durchkreuzen, sagt sie, weil diese "Muster der Gewalt schaffen und von der Gesellschaft akzeptiert werden". Jeder in Saudi-Arabien weiß, dass die Unfälle passieren, weil die Fahrer der Frauen wie die Irren rasen und oft übermüdet sind. Jeder weiß, dass viele Unfälle vermieden würden, dürften die Frauen selber fahren.

Die Arbeiten rühren an Grenzen, nicht nur im Hinblick auf die Stellung der Frauen. Dana Awartani greift die Zerstörung des historischen Erbes auf. Als "symbolischen Kommentar" zur historischen Identität will sie ihre Installation verstanden wissen, ein Video und eine Bodenfläche. Aus Sand, gesammelt in der Wüste bei Riad, getrocknet und von Hand mit natürlichen Pigmenten gefärbt, hat sie mit fünf Schablonen bunte Muster auf den Boden gesiebt, die typisch waren für die islamische Architektur und den Stil der Gebäude in der Altstadt von Dschidda.

Viele Familien verließen von den Fünfzigerjahren an ihre Häuser, um in neue Villen zu ziehen, die sich an italienischen oder französischen Vorbildern orientierten. In dem Video sieht man, wie Awartani das Originalwerk in einem dieser alten, verwaisten Häuser zerstört; sie fegt den Sand zu einem Haufen zusammen. Erst seit ein paar Jahren gibt es Bestrebungen, die noch bestehenden, teils jahrhundertealten und mit Schnitzereien und filigranen Maschrabijja-Erkern versehenen Bauten der Altstadt zu retten; 2014 wurde das Ensemble mit mehreren Hundert Gebäuden als Unesco-Weltkulturerbe registriert.

Awartani spricht von Vernachlässigung und einer rücksichtslosen Obsession für eine moderne und industrialisierte Gesellschaft. Andere Kritiker warfen dem Staat sogar vor, er wolle das kulturelle Erbe der Hedschasi, der Bewohner an der saudischen Küste, und die Erinnerung an die Handelsstadt Dschidda als weltoffenes Tor zu den heiligen Stätten des Islam in Mekka und Medina bewusst vergessen machen. Nun aber besinnt sich das Herrscherhaus zumindest offiziell auf das historische Erbe. Das weltgrößte Museum islamischer Kunst soll in Saudi-Arabien gebaut werden, weitere historische Stätten auch aus vorislamischer Zeit sollen als Weltkulturerbe registriert werden. Idealerweise entsteht so ein neues nationales Narrativ, das die dominante und staatlich geförderte islamische Identität ergänzt.

In die ungewisse Zukunft weist der zweite Teil der Ausstellung. Acht Video-Installationen international bekannter Künstler haben Bardaouil und Fellrath in die noch nicht ausgebauten Konferenzräume eines Hotels in der King Abdullah Economic City gebracht, einer Planstadt am Roten Meer, eineinhalb Stunden nördlich von Dschidda, es ist ein Experiment in einem Land, dessen Bürger nach Bahrain fahren oder in die Emirate fliegen müssen, wenn sie ins Kino gehen wollen. Zwar kommen über das Internet Filme unzensiert nach Saudi-Arabien, mit ein paar Tricks auch vieles andere, aber es geht darum, was im öffentlichen Raum akzeptiert wird. Gerade erst musste die im Mai neu geschaffene Unterhaltungsbehörde klein beigeben; Kinovorstellungen werde es 2017 noch nicht geben, teilte sie mit, nachdem der Großmufti sich öffentlich dagegen ausgesprochen hatte.

Die Künstler sehen es mit gemischten Gefühlen, dass der Staat sich in die Kultur einmischt

Mohammed Hafiz, einer der Pioniere der Szene, ist dennoch überzeugt: Kunst könne ein Katalysator für Wandel sein. Mit seinem Partner Hamza Serafi betreibt Hafiz in Dschidda die Athr-Gallery, die wichtigste des Landes. "Die Themen sind relevant", sagt er, "aber zeitgenössische Kunst ist eine Sprache, die noch nicht sehr populär ist, das braucht Zeit." Er vergleicht seine Galerie mit der Zeitung, die sein Großvater herausgab. "Damals war das die Plattform, die das Denken angeregt hat, die zu uns brachte, was außerhalb des Landes passierte, ein Forum für Meinungen und Diskussionen." Und nun die Kunst?

Ganz so offen und unbeschwert, wie es angesichts des lockeren Empfangs mit zwei Dutzend Essensständen und Hunderten Gästen in einer windigen, warmen Nacht auf dem Dach der Galerie den Anschein hat, ist es dann doch nicht: Künstler, die mit stärker politischem Ansatz arbeiten, berichten durchaus von Druck, kennen Menschen, die wegen eines Tweets oder Videos im Gefängnis landen. Human Rights Watch kritisiert, Saudi-Arabien verschärfe die Repression gegen kritische Autoren und Menschenrechtler, gegen jeden, der unabhängige Ansichten zu Politik, Religion oder Menschenrechten äußert.

Deshalb sehen die Künstler mit gemischten Gefühlen, dass sich der Staat der Unterhaltung annehmen will. Nicht seichte Importware à la Hollywood fehle, sondern relevante Inhalte, nicht Ablenkung und Zerstreuung, sondern Auseinandersetzung. Aber auch sie selber besuchen Konzerte, die halb versteckt über soziale Medien angekündigt werden, und hoffen außerdem, dass sich der strenge Blick der Tugendwächter und der staatlichen Überwacher künftig mehr auf andere richtet, nicht auf sie. Einstweilen, sagen viele, sollen ihre Namen besser nicht in der Zeitung stehen. Die Reise hat gerade erst begonnen.

© SZ vom 21.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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