Kunst:Im Geist der Antike

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Kein Maler der Geschichte hat eine derart unfassbare Fülle ganz unterschiedlicher Arbeiten geschaffen wie Raffael. Eine Ausstellung in Wien macht diese Vielfalt erlebbar.

Von Gottfried Knapp

Den Menschen, die Raffaels bis heute unendlich oft kopierte Madonnenbilder für peinlich harmoniesüchtig oder gar kitschig halten, könnte man antworten: Kein Maler der Geschichte hat sich radikaler von seinen Anfängen entfernt als der in Urbino geborene Raffaello Santi (1483 - 1520), der innerhalb von gerade mal 17 Jahren drei historische Stilepochen stürmisch durchquert hat. Raffael konnte als junger Mann die Formen der Frührenaissance mit neuem Leben erfüllen, er hat in Florenz und Rom die Hochrenaissance auf einen ihrer Gipfel geführt; und er hat mit den dramatisch übersteigerten Visionen seiner erzählenden Fresken manche Kühnheiten des Manierismus elegant vorweggenommen.

Gerade die Andachtsbilder sind Werke von überzeitlicher humaner Schönheit

Doch wer sich einen Eindruck vom Reichtum dieses Werks jenseits der in den großen Museen erlebbaren Madonnenbilder verschaffen will, der müsste sich eigentlich nach Rom begeben, wo all jene Werke unverrückbar an Wänden fixiert sind, die Raffael zu einer Gottheit der italienischen Renaissance gemacht haben. Ersatzweise könnte er sich derzeit aber auch nach Wien begeben, denn in der Albertina ist eine Raffael-Ausstellung zu sehen, die mit immerhin 18 Ölgemälden einen guten Überblick über das malerische Werk bietet, mit ihren 130 Zeichnungen aber das gesamte künstlerische Œuvre in all seinen vielfältigen Verzweigungen und stilistischen Neuansätzen vorstellt, ja das allmähliche Entstehen der Tafelbilder und der Fresken-Kompositionen zu einem intensiven Erlebnis macht, also das Genie bei der Arbeit zeigt.

Anhand der Zeichnungen kann man den Schöpfungsprozess bei Raffael so direkt verfolgen wie bei kaum einem anderen Künstler. Sämtliche Stadien der Erfindung sind auf Papier festgehalten: vom spontanen szenischen Erstentwurf über die Kompositionsskizze und die anatomische Studie am lebenden Modell bis zum atmosphärisch subtil abgetönten, malerisch suggestiven Gesamtbild, das dann auf die Größe des zu schaffenden Gemäldes gebracht wird. Wie Raffael in jeder Szene den dramatisch wirkungsvollsten Moment und den psychologisch lebendigsten Ausdruck sucht, wie er korrigiert und verbessert, ist mit Spannung zu beobachten.

Gerade am Beispiel seiner Madonnenfiguren, denen ein langweiliges Grundmuster nachgesagt wird, lässt sich eine Fülle feinster psychologischer Kontaktnahmen zwischen Mutter, Kind und den beigesellten Figuren beobachten. Mal wird der Granatapfel, dieses Symbol der Passion, aber auch der Herrschaft, das die Mutter in der Hand hält, vom Kind nachdenklich betastet; mal hängt sich der Knabe mit einer Hand frech in den Halsausschnitt der Mutter; mal greift er übermütig nach einem Stab oder streckt den Arm neugierig nach einem Buch aus; mal blickt er, auf einem Lamm reitend, beifallhungrig zu Josef hin. All diese genau beobachteten kindlichen Gesten machen aus den Andachtsbildern Werke von anrührender Besonderheit und überzeitlicher humaner Schönheit.

An den fabelhaften Entwurfszeichnungen zur "Grablegung Christi" lässt sich das Abenteuer des Entstehungsprozesses in aufregender Dichte nacherleben. In den ersten Fassungen liegt der tote Körper, von Frauen gestützt, noch am Boden, weshalb diese Version auch den Titel "Beweinung Christi" bekam. Doch dann entdeckt Raffael, wie der Schmerz der Hinterbliebenen gesteigert werden kann, wenn drei Männer, in deren Gesichtern sich die Anstrengung abzeichnet, den Leichnam hochheben, um ihn ins Grab zu tragen, und die Frauen erschreckt zurückweichen müssen. Erst jetzt hat Raffael jene einprägsame Form der Grablegung gefunden, die dann so vielen späteren Künstlern als unerreichbares Vorbild gelten wird. Natürlich hat dieses berühmte Gemälde seinen Stammplatz in der Galleria Borghese in Rom nicht verlassen dürfen. Dafür sind die drei als Grisaillen gemalten Predellentafeln dieses Altarbilds mit den Tugendfiguren, die Michelangelos verschraubte Körper fast heiter umdeuten, von den Vatikanischen Museen ausgeliehen worden.

Ähnlich dramatisch sind die Entwicklungen, die sich an den Vorzeichnungen zum letzten eigenhändig vollendeten Werk, der "Transfiguration Christi", beobachten lassen. Anfangs hat Raffael das in den Bibel beschriebene Lichtspektakel der Verklärung auf dem Boden zwischen den gebannt aufblickenden Jüngern stattfinden lassen. Doch dann hebt er den schwebenden Christus und die verwirrten Jünger auf einen Hügel in die obere Hälfte des riesigen Altarbilds. In der unteren Hälfte aber lässt er die wundersame Heilung des besessen sich windenden Knaben in heftigen Bewegungen explodieren und erzeugt so unter den anwesenden Aposteln, die zwischen den beiden unbegreiflichen Ereignissen hin- und hergerissen werden, große Verwirrung. Die erhaltenen Vorzeichnungen der Apostelköpfe, deren Konturen später direkt auf das Bild durchgepaust wurden, gehören zum Sinnlich-Präsentesten, was je mit schwarzer Kreide auf Papier gebannt worden ist.

Raffael hat die Renaissance zur Vollendung gebracht und am Ende visionär überwunden

Die schier unfassbare Fülle ganz unterschiedlicher Arbeiten, die Raffael in den letzten Jahren seines kurzen Lebens hinterlassen hat, ist nur über die Zeichnungen zu erahnen. Neben den drei Stanzen des Vatikan, an deren Wänden Raffael die Renaissance zur Vollendung gebracht und am Ende schon visionär überwunden hat - im Modell ist die einzigartige Raumfolge mit den Gemälden zu bewundern -, neben den 56 Fresken in den benachbarten Loggien und den Entwürfen für die riesige Sala di Costantino, neben den Gemäldezyklen in zwei Kirchen Roms und den Kartons für die zehn Tapisserien der Sixtinischen Kapelle, neben den Architekturentwürfen für den Petersdom und die prachtvolle Villa Madama hat Raffael für seinen Mäzen Agostino Chigi immer wieder neue Wunderwerke schaffen müssen. Mit seinem Fresko der von Delfinen schwungvoll über das Meer gezogenen Galatea in der Villa Farnesina hat er schon 1512 den Malern des Barocks vorgeführt, wie die flüchtigen Elemente Wasser und Luft an trockenen Wänden zu sprühendem Leben erweckt werden können. Und in seinem Entwurf für "Die Hochzeit von Alexander und Roxane" (unser Bild), die einige Jahre später dort auf die Wand des Schlafgemachs gemalt werden sollte, hat er all die Figuren, die in der Beschreibung eines verlorenen antiken Gemäldes erwähnt sind, zu einer heiteren Gemeinschaft zusammengeführt. Dieser Entwurf kann für sich in Anspruch nehmen, den Geist der Antike mit zeitgenössischen Mitteln, mit Rötel und Metallgriffel, zurückbeschworen zu haben. Renaissance in ihrer reinsten Form.

Licht und Schatten machen das erotische Geschehen auf dieser Zeichnung zum plastischen Ereignis. Zwei Putten bereiten die Braut für die Hochzeitsnacht vor. Die Liebesgötter leiten den Bräutigam auf seine Partnerin zu. Die übrigen Putten aber spielen mit den Waffen, die der Held abgelegt hat: Zwei tragen die Lanze, andere zerren am Schild; und einer hat sich am Boden im Brustpanzer so verkrochen, dass er daherkommt wie eine Schildkröte.

Raffael . Albertina, Wien. Bis 7. Januar. Der Katalog (Hirmer Verlag) kostet im Museum 32,90 Euro. www.albertina.at.

© SZ vom 30.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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