Kunst:Genremaler mit der Kamera

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Harun Farocki begann als Filmemacher, wird aber posthum endgültig zum Installationskünstler erklärt. Eine Schau in München zeigt seine faszinierenden Studien zur Arbeitswelt.

Von Catrin Lorch

Wie können Menschen in Zeiten, in denen ihnen bei der Arbeit die modernsten Technologien zur Verfügung stehen, überhaupt noch daran denken, in Bürozellen aus Gipskarton zu arbeiten? Die Stimme, die das fragt, klingt entschieden, aber auch einschmeichelnd. Der Fortschritt ist da, sagt der Herr im blauen Anzug, allein der Mensch, der muss noch ankommen in der neuen Welt. In dieser neuen Welt gibt es nämlich keine Büros mehr, sondern "Hubs" und solche "Arbeitsumfelder" wie den "Campus". Mit Treffpunkten, Rückzugsmöglichkeiten, Nischen für Kommunikation und solchen für Recherchen.

Je länger man ihm zuhört bei dem Vortrag, umso deutlicher wird: Wo Unsicherheit herrscht über den Weg in die Zukunft, da werden erst einmal Stühle geordert und Tische, puppenstubenkleine Überlegungen, längst selbst virtuell, als Module für jede Situation adaptierbar. Die Firma Quickborner Team ist in dieser Hinsicht spezialisiert, berät und moderiert den Umzug in diese Zukunft, im Hintergrund rotiert der wasserfeste Filzstift auf dem Flipchart und zieht einen Kreis um den Satz "Welchen Weg der Veränderung bis Du bereit zu gehen?"

Die Dokumentation "Ein neues Produkt" folgt mit großer Ausdauer den Verhandlungen über Einrichtungskonzepte in der Hamburger Hafenstadt. Harun Farocki hat den Film im Jahr 2012 erstmals in direkter Nachbarschaft zu dem Büroviertel gezeigt, damals muss der Film wie ein "Making-Of" gewirkt haben, die nachträglich veröffentlichte Blaupause, die offenlegt, was sich hinter den verglasten Fassaden abspielt. Dass die Filme von Harun Farocki so unmittelbar wirken, liegt auch daran, dass keine Erzählstimme eingreift, dass sich Gespräche und Geschehen vor seiner Kamera ungestört entfalten. Die Wirklichkeit bleibt, wie sie ist. Der Zuschauer kann seine Schlüsse selbst ziehen - geht es um Quadratmeter und Workflow? Verhandelt man Hierarchien? Oder eine Betriebskultur, die sich auch in Tonfall, Etikette oder Kleidung ausdrückt? "Ein neues Produkt", handelt nicht von Waren oder Dienstleistungen, die eines Tages auf dem "Campus" entstehen könnten. Hier verhandeln Geschäftsführer oder Bereichsleiter allein die Arbeit selbst, passen der menschliche Effizienz einen Rahmen an.

Wie Arbeiter eine Fabrik verlassen, zeigt Farocki im Querschnitt des Jahrhunderts

Für die Ausstellung "Harun Farocki. Counter Music" im Münchner Haus der Kunst wurden Werke zum Thema Arbeit aus dessen Œuvre ausgewählt. Ein Flachbildschirm zeigt etwa "Nicht ohne Risiko", einen Film, der die Verhandlungen einer Technologie-Firma mit einer Gruppe von Investoren in München verfolgt. Im angrenzenden Saal stehen elf Monitore auf dem Boden: "Arbeiter verlassen eine Fabrik in elf Jahrzehnten" reiht Ausschnitte aus Spielfilmen zu einem langen Strom, der immer wieder dasselbe zeigt - wie Menschen ihren Arbeitsplatz verlassen. Das früheste Beispiel hat der Installation den Titel vorgegeben: "La Sortie de l'usine Lumière a Lyon" ist ein 45 Sekunden dauernder Kurzfilm der Brüder Lumière aus dem Jahr 1895, einer der ersten Filme überhaupt.

Es hat Harun Farocki sichtbar fasziniert, dass die Geschichte seines Mediums mit den Aufnahmen von ein paar Hundert Männern und Frauen einsetzt, die auf eine Kamera zulaufen, die frontal vor den Toren der Fabrik aufgebaut wurde. Dass ihr Weg in den Feierabend so fest vorgegeben war, war damals ein Vorteil für die Filmpioniere, die auch die Ankunft eines Zuges auf den Bahngleisen filmten. Diese paar Sekunden, die Harun Farocki wieder und wieder aufgegriffen hat, sind ihm wohl auch deswegen Ausgangspunkt, weil alles noch so klar geordnet ist: Die Fabrik ist ein Bau mit festen Mauern und einem Tor, die Arbeiter bewegen sich wie auf einem Vektor, dem Zeitstrahl eines Diagramms. Dass diese Setzungen, die Punkte, Vektoren, Geraden und Gleichungen, in denen Ökonomen "Arbeit" darstellen, im Lauf der Jahre immer verschlungener wurden, das machen die Filme und Installationen Farockis sichtbar, der ein Ohr hat für Semantik und Tonfall und die Floskeln der Macht. Und dessen Kamera die frontale Perspektive der Lumières aufgegeben hat zugunsten eines meist diagonalen Blickfelds, in dem sich zwischen den Geraden des Laufbandes, der Lagerregale oder Büroflure noch Abzweigungen denken lassen.

Im angrenzenden Saal sind zwölf Monitore im Halbkreis angeordnet, "Eine Einstellung zur Arbeit" zeigt Menschen am Arbeitsplatz, jeweils ein paar Filmminuten, eine Einstellung lang: den operierenden Arzt. Die afrikanische Näherin. Eine Frau, die in Asien Sex am Telefon verkauft. Bäcker, Schreiner, Maurer. Es ist ein kaleidoskopisch aufgefächerter Blick auf Arbeitende, die Verdichtung kurzer Filmsequenzen zur langen, sanft getakteten Reflexion. Bevor im Herbst in Berlin eine umfassende Retrospektive zum Werk Harun Farockis eröffnet, lässt sich vor solchen Werken auch in München die Entwicklung des Filmemachers zum Installationskünstler nachvollziehen.

Farocki, geboren 1944 als Sohn eines Inders und einer Deutschen, die in den Zwanzigerjahren ins Sudetenland eingewandert waren, gestorben 2014 in Berlin, vollendete in seiner Karriere als Filmemacher insgesamt mehr als neunzig Werke. Als Künstler wurde er von der Weltkunstschau Documenta etabliert, wo im Jahr 2007 eine Installation "Deep Play" - sie zeigte ein Fußballspiel aus zwölf Kamerawinkeln - im Zentrum stand. Die bildende Kunst, die sich da schon lange die Gattungen Film und Dokumentation einverleibt hatte, würdigte damit Harun Farocki als einen der ihren. Die Generation von Omer Fast oder Tacita Dean verdankt ihm viel.

Ein Künstler, dessen Werk im Museum bewahrt wird, kann einen anderen Blick erwarten

Seither widmeten sich nicht nur Kinos und Filmfestivals, sondern auch Kuratoren und Museen dem Werk des Künstlers Farocki. Dass nun auch sein filmisches Lebenswerk - lange zerstreut in Archiven und den Kellern der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten - komplett erschlossen wurde, ist paradoxerweise eine Folge dieser Entwicklung: Okwui Enwezor, Direktor am Haus der Kunst, zeigte vor zwei Jahren bei der Biennale von Venedig erstmals alle Farocki-Filme auf einer Wand aus unzähligen Monitoren.

Als Künstler, dessen Werk nun in den Depots der Sammler und Museen verwahrt wird, kann Farocki zudem einen ganz anderen Kontext beanspruchen. Realismus ist in Film und Kunst eben nicht mit einem Maßstab zu messen. Farockis Filme sind jetzt mit den fein gemalten Gemälden des niederländischen goldenen Zeitalters verbunden. Seine Filme, die den Arbeitsalltag der Bundesrepublik dokumentieren, schließen so an Gemälde der Genremalerei ein, an Zunftbilder, an die flämischen Panoramen eines Pieter Brueghel oder Bilder, die in aller Akribie Menschen am Spinnrad zeigen, am Pflug, an der Töpferscheibe oder auf der Jagd.

Die westliche Kunst der Nachkriegszeit hat sich - auch in Abgrenzung zum Sozialistischen Realismus - kaum für das Motiv der Arbeit interessiert. Die Pop-Art stellte die Warenwelt aus oder ästhetisierte die Welt der Logos und Signets. Und die Wirtschaft sah sich lieber als Mäzen oder Sponsor denn als Motiv. Für Harun Farocki dagegen war die Beschäftigung mit der Wirtschaft, mit den Bedingungen der Arbeit, zentral. Filme wie "Die Umschulung" oder "Der Finanzchef" werden nun Leerstellen in der Kunstgeschichte des Westens ausfüllen. Und die Aufnahmen, die Farocki verwendet, die zeigen, wie vor einem VW-Werk "Metallarbeiter" aufgerufen werden, sich gegen "die Profitgier" zur Wehr zu setzen, sind damit - unerwartet - Teil der abendländischen Kunstgeschichte. Wie auch die Überlegungen des Quickborner Teams zur Hafenstadt. Über die Bilder und Erzählungen des Künstlers Harun Farocki sind die Herren in den unauffälligen Anzügen unmittelbar mit dem Realismus eines Gustave Courbet und dessen "Steineklopfern" und "Kornsieberinnen" verbunden.

Harun Farocki. Counter Music. Im Haus der Kunst, München, bis zum 28. Mai. Am Samstag, 22. April, veranstalten die Münchner Kammerspiele eine Filmnacht: "Harun Farocki. Filme zum Thema Arbeit".

© SZ vom 11.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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