Kunst:Erst mal rausfahren

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Das Lenbachhaus in München hat die Malerei des 19. Jahrhunderts neu geordnet. Zu sehen ist, wie die Stadt zwischen Idylle und Moderne changiert.

Von Johan Schloemann

Was machen die Münchnerin und der Münchner, wenn sie sich ihrer Großstadtexistenz nicht ganz sicher sind? Sie fahren ins Oberland. Einfach mal "raus" in die wunderschönen Voralpen. Die gut geregelte Ertüchtigung, Seelenwellness und Zivilisationsflucht endet am Sonntagnachmittag in einem ebenso gut geregelten Stau. Wie hieß es noch bei Lessing: "Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten."

Oder sie gehen ins Lenbachhaus. Das ist das Kunstmuseum der Stadt München, kein "staatliches" Haus - eine Unterscheidung, die in Bayern leicht von den Lippen geht, die Auswärtige aber erst einmal verstehen müssen: Staatlich heißt in diesem Fall Freistaat Bayern, ehemals königliches Bundesland, Seehofer-Country. In der Städtischen Galerie hingegen weht der Münchner Geist im engeren Sinne, und dort sieht man die Bilder aus der Zeit, in der parallel zur "Kunststadt" auch das Rausfahren erfunden wurde. Und damit auch die neue Berglust, der Trachtenkult und die heute noch links wie rechts tief verwurzelte Vorstellung einer modernen Stadt, deren Lebensadern dennoch die ländliche Tradition und Freiheit seien.

Als die städtische Sammlung am Ende der Weimarer Republik, 1929, aufgebaut wurde, da fehlte noch der "Blaue Reiter", jene Schenkung von Gabriele Münter mit der Kunst der klassischen Moderne rund um Wassily Kandinsky, die nach dem Zweiten Weltkrieg ein weltberühmtes Museum aus dem Lenbachhaus gemacht hat und die bis heute die meisten Besucher anzieht. Und es fehlte noch die Kunst nach 1945, die man später anfing zu sammeln. Es begann in der früheren Neorenaissance-Villa des konservativen Porträtisten und "Malerfürsten" Franz von Lenbach vielmehr mit Münchner Malerei des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende.

Ebendieser Kernbestand wird jetzt, nach der Erweiterung und Neueröffnung des Lenbachhauses vor vier Jahren, in neuer Hängung präsentiert. Sie ist nicht mehr streng nach der Chronologie geordnet, sondern nach Themen und Motiven, und gerade dadurch macht sie den Unterschied von städtisch und staatlich noch einmal besonders gut greifbar: In der unweiten Neuen Pinakothek, staatlich, von Hof und Akademie dominiert, ist das 19. Jahrhundert viel internationaler und in der deutschen Malerei, trotz mancher Heimatliebe, mehr von Italien- und Griechenlandsehnsucht, Mythologie und Geschichte geprägt. Ganz anders im Lenbachhaus, auch wenn es bei den Malern gelegentlich Überschneidungen gibt: Hier konzentriert sich die neue Präsentation, kuratiert von Susanne Böller, sehr folgerichtig auf das Verhältnis von Stadt, (Um-)Land und Kunst.

Das Draußen und das Drinnen - es ist ein großes Thema des 19. Jahrhunderts bei wachsender Verstädterung, Industrialisierung, bürgerlicher Revolution, angestoßen von der französischen Freiluftmalerei. Aber je nach Ort fallen diese Spannungen unterschiedlich dramatisch aus, in München zunächst eher undramatisch. Die Wald- und Alpenbilder im Lenbachhaus sind zuerst tendenziell lokalpatriotische Idyllen, auch wenn sie zum Teil von hervorragenden Landschaftsmalern wie Johann Georg von Dillis und Carl Rottmann (Bild oben) stammen; sie werden aber brüchiger und wilder, und die Künstlerlandpartie entwickelt sich vorsichtig hin zur Libertinage, zu Sonnenbädern und alternativem Leben. In Texten und Hörstationen erfährt man einiges über kulturhistorische Hintergründe und auch über das Fortwirken von Motiven wie der Waldlust und der touristischen Vermarktung der Landschaft, die mit den Ausflügen der Künstler ebenfalls begann.

Sehr wohltuend ist es, dass Malstile und Schulen in der neuen Ausstellung nicht allzu akademisch sortiert sind und damit auch ein wenig das Fortschrittsdenken der Kunstgeschichte aufgebrochen wird. Man sieht das gut an einem der wichtigeren Künstler der Sammlung, an Lovis Corinth (1858 - 1925). Gewiss ist er mit seinem immer gröberen Impressionismus auf dem Weg zur Moderne, er gehörte zur Münchner "Sezession" von 1892; und obwohl München, wo Corinth auch studiert hatte, Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich eine der Hauptstädte der Malerei und Kunstausbildung in Europa geworden war, wurde es ihm dort zu eng, denn insgesamt drohte der Geschmack, trotz mancher Rebellen, trotz Jugendstil und Symbolismus, historistisch zu stagnieren. Corinth ging also nach Berlin. Aber nach dem Ersten Weltkrieg kaufte er sich einen Alterssitz am Walchensee, und seine Malerei fügte sich doch wieder in die Motivgeschichte der Alpenmalerei.

Die Malerin Anna Hillermann stellt sich vor die Staffelei und lädt ein zum Spiel der Blicke

Lovis Corinth, dessen Spätwerk den Nazis später als "entartet" galt - auch das ist ein Kapitel der Kunststadt München -, konnte in seinen letzten Jahren gar nicht genug Walchensee-Motive malen. Sie fanden in Berlin reißenden Absatz, aus doppeltem Grund: als Stadtflucht und als sichere Geldanlage.

Den Landhoffnungen stellt die neue Dauerausstellung geschickt das Stadtleben im moderner werdenden München gegenüber; die Porträts zwischen bürgerlicher Repräsentation und Unkonventionalität, das Interesse für Wissenschaft, Anatomie, Literatur, Theater. Auch Film, Fotografie und Illustrierte haben erste Wirkungen. Und im Atelier sieht man nun auch Frauen, denn seit 1884 gibt es die "Damenakademie". Die Malerin Anna Hillermann experimentiert in ihrem Selbstporträt (Bild links) mit den Blickrichtungen und mit den Erwartungen an Nacktheit und Angezogenheit. Auch hier ein Spiel mit dem Münchner Drinnen und Draußen, zu dem das Lenbachhaus jetzt lockt.

Bildschön. Ansichten des 19. Jahrhunderts. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Dauerausstellung. Info: www.lenbachhaus.de

© SZ vom 22.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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