Kunst der DDR-Zeit:Unverstellter Blick

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Wolfgang Mattheuer malte deutlich und vielsinnig zugleich. Verschlüsselt waren seine Werke nicht, auch wenn man das der DDR-Kunst gerne zuschrieb. (Foto: Wolfgang Kluge/dpa)

Wolfgang Mattheuer lebte und arbeitete in der DDR. Sein Werk ist nicht verschlüsselt, auch wenn man in den Neunzigern gerne danach suchte, seine Bildformeln sind deutlich und vielsinnig zugleich. Es ist ein Lebenswerk, das noch einmal neu zu entdecken wäre.

Von Jens Bisky

Die Werke des nachdenklichen Einzelgängers Wolfgang Mattheuer bekommt man viel zu selten zu Gesicht. Kunst aus der DDR gilt vielen noch immer als problematischer Sonderfall und wird gern mit dem Schlagwort "DDR-Kunst" entsorgt. Dabei sprechen gerade Mattheuers Gemälde unmittelbar zum Betrachter, sind verständlich auch ohne Kenntnis der Begleitumstände, unter denen sie entstanden. "Die Ausgezeichnete" etwa, 1973/74 geschaffen, zeigt eine alte Frau mit kurzen, überwiegend grauen Haaren. Sie sitzt, die Augen gesenkt, vor einem weiß gedeckten Tisch, auf dem ein Blumenstrauß liegt, eine gelbe und ein paar rote Tulpen. Verhärmt wirkt das Gesicht der Ausgezeichneten. Es ist von großer Würde und Einsamkeit zugleich. Diese Frau ist ganz bei sich. Ihr Körper, die vertikale, und der Tisch, dessen Füße nicht zu sehen sind, der daher zu schweben scheint, bilden ein Kreuz. Unheimlich wirkt die Szene und festlich, erzählt von Belastung und Behauptung.

Auf die Blumen fällt, man weiß nicht, warum, ein Schlagschatten. Der Kunsthistoriker Eckart Gillen hat das suggestive, beunruhigend fesselnde Gemälde gedeutet als "Sinnbild der Kluft zwischen den Idealen und der kargen Prosa des real existierenden Sozialismus". Das ist gewiss richtig, gerade deswegen wurde dieses Werk so bekannt, aber es spiegelt auch eine allgemeine menschliche Erfahrung des Alleinseins, des Am-Rande-Stehens, das dann am deutlichsten wird, wenn man einmal in den Mittelpunkt rückt. Irgendwie gehört man dazu und fühlt sich doch isoliert.

Der Autodidakt mied offizielle Diskussionen und Rituale der Selbstüberhöhung

Mit dem Gemälde "Kain" war Mattheuer 1965 bekannt geworden. Es zeigt den Brudermord in vertrauter, hügeliger Landschaft, im Hintergrund eine moderne Großstadt. Die Darstellung der Gegenwart in religiösen und mythologischen Gleichnissen ermöglichte es, die Deutung offenzuhalten, statt kunstpolitischen Verklärungsgeboten zu folgen. Mattheuer hat dieses Verfahren zur Vollendung getrieben, am schönsten in seinen Sisyphos-Bildern. Der von den Göttern bestrafte Frevler, zu nie endender, vergeblicher Anstrengung verdammt, fügt sich bei Mattheuer nicht länger seinem Schicksal: er flieht, er behaut den Stein, er wird übermütig.

Unter den Meistern der Kunst in der DDR, neben dem altmeisterlich ungreifbaren Werner Tübke oder dem skrupulösen Historienmaler Bernhard Heisig, war Wolfgang Mattheuer der Bilderfinder, einer der es verstand, Spannungen und Stimmungen in prägnanten Kompositionen einzufangen, Bildformeln zu finden, die sich einprägen, weil sie deutlich und vielsinnig zugleich sind.

1927 im Vogtland geboren, hatte er eine Lithografenlehre absolviert, in Leipzig an der Hochschule für Grafik und Buchkunst studiert, später dort auch gelehrt. Zur Malerei kam er als Autodidakt, 1974 entschied er sich für ein Leben als freischaffender Künstler. Er war aus dem Kunstleben des kleinen Landes nicht fortzudenken, mied aber die offiziellen Diskussionen, die Rituale der Selbstverständigung und Selbstüberhöhung. 1988 trat er aus der SED aus, im Jahr darauf demonstrierte auch er montags in Leipzig.

Während des deutsch-deutschen Bilderstreits der Neunzigerjahre hat man in den Werken gern nach versteckten, nach systemkritischen Botschaften gesucht und hineingelesen, was man finden wollte. "Freundlicher Besuch im Braunkohlerevier" heißt ein Gemälde Mattheuers aus dem Jahr 1974. Darauf kreuzen sich unter unwirklich blauem Himmel in einer Tagebaulandschaft die Wege zweier Gruppen: gelassene Arbeiter mit Mützen und beleibte Herren, die auf ihren Schultern große Kästen tragen. Diese mit Masken bemalten Kästen verdecken ihre Gesichter, ihre Köpfe ganz. Und diese Herren werfen keine Schatten, als wolle die Landschaft sie nicht aufnehmen, sie vielmehr rasch wieder loswerden. Die Scheidung der Gesellschaft in zwei Welten ist hier gestaltet. Beide scheinen einander nichts zu sagen zu haben, auch wenn der Weg der selbstbewusst Tätigen und der Weg der Bürokraten einander kreuzen.

Aber Mattheuer hat hier nichts verschlüsselt, das Unvereinbare beider Gruppen erschließt sich dem ersten, flüchtigen Blick. Er bietet ein Gleichnis, ein Bild, um Gesellschaft zu verstehen - und er hat dieses Gleichnis nach 1989 wieder verwendet. Ihre Kraft gewinnen seine Gemälde aus den gekonnten, oft surreal anmutenden Erfindungen und der Genauigkeit der Landschaftsdarstellung. Die Tagebaue und Hügel Mitteldeutschlands, seine Abenddämmerungen und seine Sonntage, Straßen und Seen hat dieser stille Künstler liebevoll und unsentimental festgehalten. Sie erden seine Erfindungen und Bildzitate. Man wünschte sich einmal wieder eine Ausstellung, die ganz dem Landschaftsmaler Mattheuer gewidmet wäre, der Landschafter wurde und blieb in einer Zeit, in der die Landschaftsmalerei überholt, veraltet, uninteressant schien.

Eine Skulptur wurde sein heute berühmtestes Werk: "Der Jahrhundertschritt" von 1984. Viel zu klein ist der Kopf der Figur, die da offenkundig sehr schnell voran will. Die rechte Hand zum deutschen Gruß erhoben, die linke Faust geballt, hat dieser Schreitende keinen Halt in sich. "Er droht", schreibt der Historiker Götz Aly, ungemein aggressiv auf den Betrachter loszugehen, und weckt doch Mitleid, weil er jeden Moment auf fürchterliche Weise stürzen könnte." Den Erfahrungen der Jahrhundertschrittler, ihrem Alltag, ihren Träumen und ihren Schwächen und Lebenslügen hat Wolfgang Mattheuer sein Lebenswerk gewidmet. Es wäre noch einmal neu zu entdecken.

© SZ vom 12.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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