Kunst:Besen, Besen Mechanowesen

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Die Tate Modern Gallery in London zeigt frühe Werke des Bildhauers Alexander Calder. Allerdings bringt die Schau die Werke um ihre wichtigste Eigenschaft: Sie müssen still stehen.

Von Alexander Menden

Albert Einstein besuchte 1934 eine Ausstellung des New Yorker Museum of Modern Art, bei der Alexander Calders motorisierte Skulptur "A Universe" zum ersten Mal gezeigt wurde. Vierzig Minuten stand der Physiker vor dieser Arbeit, um deren zentrale, aus Draht gewundene Kreisform sich ein roter und ein weißer Ball diagonal und spiralförmig auf und ab bewegten. Vierzig Minuten dauerte es, bis alle 90 separaten Bewegungszyklen des Werks durchlaufen waren und das Ganze von vorn begann. Einsteins konzentriertes Verweilen darf man als Respektsbezeugung vor einem komplexen, durchgestalteten Vorgang begreifen, dessen Referenzsystem eine Galaxie war. "Das meiner Arbeit zugrunde liegende Formgefühl ist das System des Universums", sagte Calder 1951. "Die Idee frei im Raum schwebender Körper verschiedener Größe und Dichte - einige ruhend, während andere sich in eigentümlicher Weise bewegen - scheint mir eine ideale Formenquelle zu sein."

"A Universe" ist jetzt bei der Ausstellung "Alexander Calder - Performing Sculpture" in der Londoner Tate Modern Gallery zu sehen. In ihrer Glasvitrine fehlt der Skulptur bei allem filigranen Charme allerdings ihre vielleicht bedeutendste Eigenschaft: die Bewegung. Natürlich ist der Mechanismus, der dieses kleine Universum antrieb, fast 80 Jahre alt. Natürlich war er ohnehin nie dafür ausgelegt, für längere Zeit ununterbrochen zu laufen. Dennoch ist die Unbeweglichkeit dieser und einiger anderer rund 100 hier gezeigten Arbeiten das einzige Manko einer gut ausgewählten und luzide kuratierten Schau. Calders Kunst ist einfach unvollständig ohne jenen "quasi-astralen Tanz", von dem ein amerikanischer Kritiker einmal sprach.

Der Miniaturzirkus mit Hunden, Akrobaten und Feuerschluckern aus Draht füllte fünf Koffer

"Performing Sculpture" will keine Calder-Retrospektive sein. Die Tate beschränkt sich auf einen relativ kurzen frühen Abschnitt in der Karriere des amerikanischen Kinetik-Pioniers, von den Zwanziger- bis zu den Vierzigerjahren. Keine gigantischen Metall-Mobiles oder -Stabiles also, nichts von der überdimensionalen Kunst im öffentlichen Raum, die von den Sechzigerjahren an entstand. Die meisten Stücke sind so fragil, dass die Besucher gebeten werden, nicht dagegenzupusten, um sie in Bewegung zu versetzen. Dabei macht ja gerade die Grundidee, dass man Bewegungen so komponieren könne wie Farben und Formen, Calders Kunst aus.

Das fängt mit dem berühmten "Cirque Calder" an, den der Künstler 1926 in Paris zu bauen begann, und der sich zu einer mehraktigen mechanisierten Show entwickelte. Diese wunderbar verspielten Elefanten, Hunde, Feuerschlucker und Akrobaten aus Draht, aus Stoffresten, Leder, Gummi und anderen Materialien sollten nicht einfach herumstehen. Calder inszenierte mit ihnen vielmehr kleine Zirkusaufführungen für Freunde und Kollegen und reiste damit sogar zwischen den Kontinenten (der Zirkus füllte schließlich fünf große Koffer). Daneben sieht man in London einige wunderbare Porträts - Edgar Varèse, Joan Miró, Josephine Baker mit Spiralbrüsten -, die man als leicht hingetuscht bezeichnen würde, wären sie nicht aus Draht gefertigt. Calders Hintergrund als Zeichner - sein erstes Buch "Animal Sketching" entstand im New Yorker Zoo - ist hier deutlich sichtbar.

Den Schritt von diesen bezaubernden Anfängen, die viel von der Verspieltheit eines Paul Klee haben, in abstrahierte Dreidimensionalität vollzieht Calder 1930 nach einem Besuch in Piet Mondrians Atelier. Er bemerkte die bunten Karton-Rechtecke, die Mondrian als Kompositionshilfen an der Wand aufgehängt hatte. Mondrian teilte Calders Meinung nicht, es wäre doch interessant, solche Formen auch einmal in Bewegung zu sehen. Diese erste Begegnung mit Abstraktion nannte Alexander Calder später den "Schock, der mich bekehrte". Er habe sich wie ein Baby gefühlt, "das einen Klaps bekommt, damit seine Lungen zu arbeiten beginnen".

Auf der Bühne sollten Calders Entwürfe nicht Kulisse sein, sondern den Tänzern ebenbürtig

Mit einer Reihe von sieben "Panels", die er zwischen 1936 und 1937 schuf (sie sind in der Tate Modern zum ersten Mal überhaupt gemeinsam zu sehen), befreit Calder das kinetische Potenzial des Kubismus und Futurismus aus dem 2-D-Korsett. Primärfarbige, amorphe Formen, die, als Mobiles arrangiert, gleichsam aus der Leinwand ausbrechen. Dieser Schritt wurde von der Kritik begeistert aufgenommen. Die "in Stein gehauene Starre traditioneller Skulptur" werde hier in den Schatten gestellt, lautete das Urteil. Alexander Calder, als Sohn zweier Künstler ohnehin schon tief in der skulpturalen Tradition verwurzelt, war zudem als mechanischer Ingenieur ausgebildet. Dennoch dienen seine kinetischen Skulpturen, ganz gleich, ob motorisiert oder nicht, vordergründig keinem praktischen Zweck. Sie sind mechanisierte Aufführungen ihrer selbst. Obwohl er oft mit anderen Künstlern zusammenarbeitete, geriet er durch diesen Anspruch bisweilen in Konflikt mit deren Performance. So war die Arbeit am Bühnenbild für Martha Grahams Ballett "Horizons" zu Musik von Louis Horst (1936) eine frustrierende Erfahrung für Calder. Er betrachtete seine Skulpturen - "schläfrige Schlangen", wie der New Yorker Morning Telegraph schrieb - nicht als Hintergrund, sondern als den Tänzern mindestens ebenbürtige Elemente.

Wie sehr Calders Arbeiten für sich genommen ihre Umgebung prägen können, beweist in London besonders eindrucksvoll ein Raum mit acht Mobiles und sechs Bodenskulpturen. Die hängenden Strukturen bilden eine Art Blätterdach, während die gleichsam aus dem Parkett wachsenden Arbeiten den Raum wie zerbrechliche Mechanowesen bevölkern. Und wenn man Glück hat, und ein Luftzug durch den Raum geht, erwachen sie zum Leben.

Alexander Calder. Performing Sculpture. Tate Modern, London. Bis 3. April. www.tate.org.uk/modern. Katalog 24,99 Pfund.

© SZ vom 18.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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