Kulturtechnik:Herrschaft der Zeigefinger

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Die neuesten Bedienungstechnologien haben einen sehr alten Fluchtpunkt: die Geste.

Von Lothar Müller

Der Druck lässt weiter nach. Eben waren es noch die Minimalbewegungen, die sich ins Zentrum der Kommunikation der Menschen mit ihren Geräten geschoben hatten: das Gleiten der Finger über eine Tastatur, die nur noch das Bild einer Tastatur war, die sanfte Berührung des Touchscreens durch eine Fingerkuppe, das leichte Wischen beim Blättern durchs Fotoalbum des Smartphones, das Größerziehen eines Bildausschnittes im Zusammenspiel von Daumen und Zeigefinger.

Nun wird der Schritt vom physischen Minimalkontakt zur berührungslosen Kommunikation mit den Dingen angepeilt, die Ablösung der Handbewegung von dem Gerät, an das sie adressiert ist. Volkswagen arbeitet - mit Blick auf die "mittelfristige Zukunft" - an einem Golf-Modell, in dessen Cockpit der Touchscreen einen Teil seiner Aufgaben an die reine Geste abgibt: das Öffnen und Schließen des Schiebedachs, die Verstellung der Sitze.

"Gestensteuerung" heißt das dazugehörige Zauberwort. Es schließt die Bedienung der neuesten Technologien mit einem der ältesten Kommunikationsmedien zusammen und steht auch über dem Projekt "Soli", mit dem die Firma Google die 2007 vom Apple-Smartphone durchgesetzten Touchscreens überbieten will. Die Voraussetzung dafür ist natürlich eine verlässliche Gestenerkennung durch die Software der Apparaturen. Das will Google durch einen fingernagelgroßen Minichip erreichen, der die Gesten wie ein Radargerät registriert und als Signal identifiziert.

Das Vor- und Zurückschieben der Fingerkuppe des Zeigefingers auf der Daumenkuppe zum Beispiel könnte als Lautstärkenregler funktionieren, das Auftreffen des Zeigefingers auf den Daumen den Knopfdruck ersetzen. Interessant an solchen Projekten ist nicht nur die im engeren Sinne technische Seite, hier also der Einsatz der Radarmessung bei der Identifizierung des Gestenrepertoires. Interessant ist zugleich und vor allem der Wunsch, der in dem Projekt steckt: die ultimative Modernisierung des stummen Dialogs zwischen den Menschen und ihren Apparaturen.

Zur Geste gehört die Utopie der Universalsprache

Die Überführung des ehemaligen Knopfdrucks in die Geste, die sowohl den Knopf wie das Drücken ersetzt, ist dafür charakteristisch. Das Drücken von Knöpfen, das Ziehen von Hebeln, das Umlegen von Schaltern waren Bewegungen, die im Zuge der ersten industriellen Revolution zu Standardbewegungen sowohl im modernen Produktionsprozess wie in den modernen Haushalten wurden.

Es waren Handbewegungen, die aus der Mechanisierung und Industrialisierung der alten Handarbeit hervorgingen. Man kann sie im Slapstickformat in Chaplins Film "Modern Times" studieren, im Format analytischer Kulturanthropologie in Siegfried Giedions "Mechanization takes Command" (1948, dt. Die Herrschaft der Mechanisierung, 1982).

Ältere Jahrgänge mögen sich noch an den Kraftaufwand erinnern, der das journalistische Einhämmern auf Typenhebel-Schreibmaschinen zu einer für Film und Comic so attraktiven Tätigkeit machten. Die Reduzierung des Kraftaufwandes begann schon in der mechanischen Ära, zum Beispiel durch die elektrische Schreibmaschine. Diese Reduzierung des mechanischen Elementes setzte sich über die Fernbedienung und ihre Geschwister als Grundtendenz bis in die Touchscreen-Technologie des digitalen Zeitalters hinein fort. Die Fingerkuppe wurde dabei zum sensitiven Zentralorgan der Hand, die immer schon das Zentralorgan im stummen Dialog mit den Dingen gewesen war.

Mit der von ihrem dinglichen Adressaten gelösten reinen Geste rückt ein Kommunikationsmedium ins Zentrum, das seine Energie aus dem menschlichen Körper bezieht. Die Geste ist aber nicht nur ein sehr alter Fluchtpunkt der neuesten Technologien. Sie hat auch ihre eigene Utopie der Universalsprache. Deren Alphabet ist weder lateinisch noch kyrillisch, weder griechisch noch arabisch. Ihr Modell ist nicht die Taubstummensprache. Es ist ihr gleichgültig, ob der Autofahrer englisch, russisch oder arabisch spricht.

Das ist ihr Vorzug gegenüber einem Sprachsignal, das eine babylonische Spracherkennungssoftware verlangen würde. Die "Gestensteuerung" besteht nicht aus Stellvertretern von Wörtern oder Sätzen, sondern aus Stellvertretern von Handlungen. Ihr anthropologisches Fundament wird in der frühen Kindheit gelegt, wo die Eltern mit dem Zeigefinger ein Element der Objektwelt hervorheben.

© SZ vom 16.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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