Kulturgeschichte:Wir Auswärtsesser

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"Im Restaurant": Christoph Ribbat präsentiert Geschichten von Köchen, Kellnern, Küchenkräften und Kritikern. Das Ergebnis ist eine bekömmliche Revue der Moderne.

Von Jens Bisky

Möglicherweise begann die neuere Restaurantgeschichte mit ausgestelltem Desinteresse am Essen. Paris um 1760: In der Stadt, in der viele hungrig bleiben, ist es denen, die vornehm sein wollen, ein besonderes Vergnügen, eine Taverne aufzusuchen und dort in Porzellanschälchen servierte, "restaurative" Bouillons zu sich zu nehmen. Nicht zu viel, man hat ja keinen Hunger und obendrein einen empfindlichen Magen. Umso mehr schätzt man den guten Service und die Möglichkeit, abgesondert von anderen Gästen an einem eigenen Tisch zu sitzen. Man isst für sich und doch in Gesellschaft - große Spiegel, teuere Möbel, erlesene Dekoration verwandeln den Raum in eine Bühne für gesellschaftliche Auftritte.

Selbstverständlich wird die Wahrheit der hübschen Ursprungsgeschichte bezweifelt, einige erklären die Entstehung der Restaurants mit dem Wechsel französischer Hofköche in die Gastronomie; eine Annahme, an die sich zwanglos die These von der Demokratisierung des Bedientwerdens knüpfen lässt.

Was auch immer sich im Paris des 18. Jahrhunderts genau ereignet haben mag: Das Restaurant ist eine historisch relativ junge und sehr erfolgreiche Einrichtung. 20 000 Restaurants soll es heute in New York geben, 30 000 in Paris, 160 000 in Tokio; die indischen Restaurants Londons beschäftigen mehr Menschen als die gesamte britische Schiffbau- und Stahlindustrie. Der Mensch in der Moderne ist zum Auswärtsesser geworden. Als solcher achtet er mal auf die Hygiene in der Küche oder die Gestaltung des Interieurs, mal auf die Originalität des Kochs oder die gleichbleibende Qualität des Angebots, dann wieder auf die Freundlichkeit des Personals oder dessen Arbeitsbedingungen oder auch auf alles zugleich.

Dieses klug montierte Buch ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert

Für Kulturhistoriker ist das Restaurant eine besonders ergiebige Institution, wenigstens so interessant wie die Fabrik oder das Büro. Im Gegensatz zu diesen sind Restaurants öffentliche Orte, an denen Gesellschaften sich ein Bild von sich selbst machen. Aber welches? Und wie? So gesehen tritt die Beurteilung der Speisen, ihrer Textur und der Ausgewogenheit ihrer Aromen letztlich in den Hintergrund. Warum aber gegenwärtige Gesellschaften Spitzenköchen besondere Autorität zubilligen, warum sie Gastronomiekritikern manchmal aberwitzige Machtpositionen bereitstellen, warum offene Küchen Mode wurden, aber die erbarmungswürdigen Arbeitsbedingungen in den allermeisten Küchen schulterzuckend hingenommen werden, wie alltäglicher Rassismus und Multi-Kulti-Küche nebeneinander bestehen - all das sind Fragen von allgemeinem Interesse auch für den, der mit Bockwurst und Eisbergsalat glücklich ist.

"Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne" verspricht das neue Buch des Amerikanisten Christoph Ribbat. Er ist mit Kulturgeschichten des Basketballs und des Neonlichts bekannt geworden. "Im Restaurant" wurde in der Kategorie Sachbuch/Essayistik für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Souverän missachtet Ribbat die Konventionen des Genres. Er verzichtet darauf, anfangs seine Themenwahl zu begründen, die Bedeutung seines Sujets herauszustellen, seine Methode zu explizieren, das Erkenntnisinteresse zu erläutern. Ribbat trägt Restaurant-Geschichten zusammen, niedergeschrieben von Köchen, Kellnern, Journalisten, Soziologen und Gästen, von Romanautoren und Philosophen. Er beginnt in Chicago, 1917: Die Anglistik-Studentin Frances Donovan, die auch Soziologie-Kurse belegt, sucht einen Job als Kellnerin. Sie will darüber schreiben, drei Jahre später erscheint dann ihre Studie "The Woman Who Waits", die erste wissenschaftliche Untersuchung über Kellnerinnen.

Christoph Ribbat: Im Restaurant. Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 228 Seiten, 19,95 Euro. E-Book: 16,99 Euro. (Foto: N/A)

Ribbat berichtet darüber, als sei er damals dabei gewesen, habe neben Donovan gestanden, als sie zum ersten Mal Kaffee servierte, habe mit ihr unter Hektik und Geschrei gelitten. Der Ehrgeiz dieses Autors scheint zunächst und zuerst ein literarischer: Er erzählt in kurzen Abschnitten, selten länger als zwei Seiten, bietet gekonnt formulierte Zusammenfassungen oder Paraphrasen von Erinnerungen, Lehrbüchern, Artikeln, Debatten, malt Szenen aus, wo immer die Quellen das hergeben - ähnlich hat Florian Illies sein Erfolgsbuch "1913" komponiert. Ribbat freilich beruft sich auf den Roman "Manhattan Transfer" von John Dos Passos. Der Leser freut sich, dass ein erzählendes Sachbuch avanciertere literarische Verfahren nutzt, statt ihn mit Lehnstuhl-Behaglichkeiten zu quälen. Die Montagetechnik funktioniert bestens, sie packt, weckt Neugier auf Details und stellt diese in neue Zusammenhänge.

Auf diese Weise erzählt Ribbat - weitgehend ohne belehrendes Dazwischengerede, aber gern die Deutungen anderer referierend und pointierend - vom Beginn der Spitzen- und der Systemgastronomie; von George Orwells Erlebnissen in Pariser Lokalen; von Escoffier, Bocuse, McDonald's und deren Kritikern; vom Zorn James Baldwins in einem Selbstbedienungsladen, in dem Schwarze keine Speisen, keine Getränke erhalten; vom Restaurant im World Trade Center; von den Abenteuern der molekularen Küche oder von der ersten Pizzeria in Deutschland, eröffnet im März 1952 als "Uffenheimer Braustüberl: Le Sabbie di Capri."

Dieses unterhaltsame Buch serviert Kuriosa, Anekdoten, Theorie und Fakten, bekömmlich auch für Leser ohne Vorkenntnisse. Was daraus für das Verständnis der Gegenwart folgt, überlegt Ribbat im vierten, dem abschließenden Teil - "Restaurants deuten". Die Kunden der Exzellenzgastronomie nehmen Teil an einer Inszenierung des Selbstverständnisses der kulturellen Eliten: "symbolsaturiert", wiederum nicht besonders hungrig, versessen auf Raffinesse, Körperlichkeit vor allem ästhetisch betrachtend. Die "technoemotionale Küche" eines Ferran Adrià oder Heston Blumenthal - vielschichtig, anspielungsreich, wissenschaftlich entwickelt - passt bestens zur Wissensgesellschaft, in der symbolproduzierende und symbolkonsumierende Schichten den Ton angeben. Ihre Helden agieren wie Intellektuelle: viel redend, publizierend, ständig präsent. Aber das ist nur die eine Seite, auf der anderen stehen die Fast-Food-Ketten mit standardisierten Abläufen und Angeboten. Zu den Imperativen der Gegenwart gehört beides: Sei kreativ (wie ein Spitzenkoch)! Sei diszipliniert und effizient (wie eine Servicekraft bei McDonald's)!

In der Küche schwitzen die Menschen, die Arbeit zeichnet ihre Körper

Ribbat stimmt weder den technokratischen Illusionen der Wissensgesellschaft noch den Albträumen von einer mcdonaldisierten Welt vorbehaltlos zu. Er findet Symptome für beides und weist vor allem darauf hin, dass in den Restaurants jene handwerklich und harte körperliche Arbeit ausgeübt wird, die in der postindustriellen Gesellschaft verdrängt wird. Das wird im Einzelfall heroisiert: Hitze, Zeitdruck, Geschrei, Lärm, klare Hierarchien! In Berichten aus den Küchen tauchen viele Motive auf, die im 19. Jahrhundert zum Beschreibungsrepertoire von Fabrikarbeit gehörten: "An den Tischen mögen die Protagonisten der neuen, vermeintlich körperlosen Zeit parlieren. In der Küche schwitzen Menschen, weil sie Lasten schleppen, Lebensmittel zerkleinern, Teller, Töpfe spülen. Die Arbeit zeichnet ihre Körper mit Schmerzen, Brandblasen, Narben."

Zwischen beiden Reichen vermitteln die Kellner, denen George Orwell so sehr misstraute, weil sie im steten Umgang mit Leuten aus "besseren Kreisen" einen besonderen Snobismus entwickelten, die aber doch Anspruchsvolles leisten, körperlich, im Small talk, durch "emotionale Arbeit". Kellnertugenden wie Freundlichkeit, situative Intelligenz, Konfliktbefriedungskompetenz, kommunikative Fähigkeiten, intuitive Menschenkenntnis helfen heute in vielen Jobs. "Heute sind wir alle Kellner" - der Satz steht allerdings auch dafür, dass im 21. Jahrhundert viele von Wohlwollen und Trinkgeld abhängig sind, unter RestaurantJob-Bedingungen arbeiten.

Gern hätte man am Ende eine scharfe These dem Verweis auf das Nebeneinander des Verschiedensten vorgezogen. Aber Christoph Ribbat beschreibt lieber als zu bewerten. Viel zu aufregend, bewegend, komisch sind die Geschichten aus den Restaurants, den immer anderen, immer gleichen Mikrokosmen der Moderne. Wie ihre Zukunft aussieht? Die wahrhaft Reichen engagieren heute Spitzenköche, auf dass diese kulinarische Ereignisse kuratieren.

© SZ vom 15.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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