Kulturgeschichte:Überstrahlt von einstiger Pracht

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John Julius Norwich weiß, warum diese Insel so traumhaft und so traurig ist: In seiner Geschichte Siziliens erzählt er von verpassten Gelegenheiten und unerfüllten Versprechungen.

Von Johan Schloemann

Traumhaft und traurig ist Sizilien. Alle, die auf die Insel fahren, werden ja verlässlich bezaubert von Wein, Jasminduft, glitzernden Küsten. Das organisierte Verbrechen tut den Gästen nichts, die pittoreske Armut auch nicht, und sie staunen über ein einzigartiges, tolerantes Kultur-Amalgam: das byzantinisch-lateinisch-islamische Teamwork in der Palastkapelle von Palermo; die dorischen Säulen des heidnischen Athene-Tempels von 480 vor Christus, die seit der Spätantike bis heute den christlichen Dom von Syrakus tragen. Der beharrliche eigene Charakter der Sizilianer wird notgedrungen zum Schicksal verklärt, und dies scheint dann schon im sizilianischen Dialekt mitzuklingen - so etwa in der dramatischen Vorliebe für den fünfsilbigen Rhythmus Tam-ta-ta-tam-tam in den Ortsnamen: Caltanissetta, Roccavaldina, Donnafugata.

Sizilien zuletzt: Die vielen Flüchtlingsboote mit denen, die es aus Nordafrika herübergeschafft haben, sind kaum zu bewältigen. Die Bürgermeister rebellieren, Italiens Regierung klagt Europa an, und an diesem Donnerstag wird SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz einem Flüchtlingslager in Catania einen Wahlkampfbesuch abstatten. Der Wald Siziliens lodert immer wieder bedrohlich, weil die Mafia illegal Müll verbrennt. Und dann hat neulich auch noch Donald Trump das spektakulär am Ätna gelegene Theater von Taormina, einen Pilgerort für die Verehrer schöner Kulturlandschaften (und wegen des Aktfotografen Wilhelm von Gloeden einst auch für die Verehrer schöner Jünglingskörper), mit seiner Anwesenheit entehrt.

Der Engländer John Julius Norwich hingegen behauptet zum Schluss seines neuen Buches über die Insel: Die Geschichte Siziliens sei seit Ende des Zweiten Weltkriegs und der Erklärung zur autonomen Region innerhalb Italiens "relativ ereignislos" verlaufen. Das sollte man diesem Gentleman, der auf die neunzig zugeht, aber schnell verzeihen. Denn erstens reicht seine Erzählung nun mal erklärtermaßen nur bis zur "Operation Husky", der Invasion der Alliierten im Sommer 1943. Und zweitens erfährt man aus dem, was bis dahin in diesem Buch passiert, auch schon recht gut, warum Sizilien so traumhaft und so traurig ist.

Weltmächte vor Traumkulisse: Im Mai 2017 diente Taormina als Bühne für den G-7-Gipfel. (Foto: Guido Bergmann/Reuters)

Schon vor mehr als fünfzig Jahren hat Norwich, ein Spross der Oberklasse, für Sizilien so Feuer gefangen, dass er seinen Diplomatendienst fürs britische Außenministerium quittierte und lieber eine Geschichte des normannischen Königreichs in Süditalien und Sizilien verfasste. Jetzt, unzählige Reisen, kulturgeschichtliche Bücher und gut dreißig historische TV-Dokumentationen später, schenkt John Julius Norwich seiner alten Liebe noch eine Gesamtdarstellung. Jeder Tourist kann dieses Buch gut und gerne einpacken, zusammen mit Lampedusas "Leopard", Goethes Italienischer Reise und den Reiseführern.

Norwich verschweigt es zwar nicht: In Sizilien lebt "der Schmerz infolge langer leidvoller Erfahrungen, verpasster Gelegenheiten und unerfüllter Versprechungen". Aber der Autor hält auch auf eine sehr liebevolle, hemdsärmelige Art zu seinen Sizilianern, zu ihrer Hoffnung auf Schönheit, Wohlstand und Glück. Nicht, dass sie an aller Kriminalität, Korruption, inneren Rivalität und Modernitätsverweigerung selber ganz unschuldig gewesen wären; aber wesentlich schuld daran war schon die ständige Fremdherrschaft. Die eigentlich mit Sonne und Fruchtbarkeit gesegnete Insel war bis zum Anbruch der Neuzeit ein wichtiger Handelsplatz im Mittelmeer - an den Küsten, während jedoch im Hinterland die wechselnden Eroberer kaum einmal Reformen durchsetzten, ja nach dem Verfall der alten römischen Straßen noch nicht einmal ein ordentliches Verkehrsnetz bauten. Reich wurden meist nur die katholische Kirche und die Adelsfamilien, die sich weigerten, ihre Steuern zu zahlen, und nur dann einmal Geld an Könige oder Vizekönige abdrückten, wenn neue Adelstitel zu verkaufen waren.

Römische Großgrundbesitzer ruinierten die Landwirtschaft für die nächsten 2000 Jahre

Man muss vorsichtig sein, geschichtliche Weichenstellungen nicht als ewigen Fluch zu sehen. Aber natürlich gab es Langzeitwirkungen, von denen Norwich salopp und illusionslos berichtet. Gut 400 Jahre spanische Herrschaft seit Ende des 13. Jahrhunderts schnitten Sizilien von der aufblühenden Kultur der Renaissance ab, außerdem von der Universität Neapel, vom Handel mit den Arabern sowie von der Intelligenz und wirtschaftlichen Tüchtigkeit der jüdischen Minderheit, die von der Inquisition vertrieben wurde. Später unter den Bourbonen im Königreich Neapel, also bis ins 19. Jahrhundert, wurde die Verwaltung der Insel auch nicht entschlossener, auch wenn der Hof von Palermo vor der napoleonischen Zeit einen gewissen morbiden Theaterglanz entfaltete.

Im Westen Siziliens reicht das Elend bis zu den riesigen Landgütern der römischen Großgrundbesitzer zurück - sie schufen schon in der Antike "eine Struktur der Flächennutzung, die Siziliens Landwirtschaft für die nächsten 2000 Jahre ruinierte". Und die Römer fingen in ihrer ersten Provinz schon mit dem Plündern von Kunstschätzen an, was Lateinschüler aus Ciceros Reden gegen den ausbeuterischen Statthalter Verres wissen. In Syrakus und anderen Städten an der Ostküste hingegen meint man bis heute noch den Einfluss der griechischen Stadtgründungen seit dem achten vorchristlichen Jahrhunderten zu spüren: bessere Verkehrswege, mehr Bürgerstolz, weniger Korruption. Und ebenfalls sehr nachhaltig wirkte die neue Arroganz des vereinigten Italien von 1861 an, die unter der Führung Piemonts den ohnehin schon als unregierbar geltenden Süden traf, obwohl der heroische Einigungszug unter Garibaldi in Marsala auf Sizilien begonnen hatte. Zur selben Zeit wird die Mafia erstmals auch namentlich greifbar.

Und doch liest man gern von all diesen Versäumnissen, Norwich erzählt süffig, und die hier und da unvermeidlich komplizierten dynastischen Details frischt er mit beherzten Urteilen auf. Vor allem wird Siziliens Geschichte auch in diesem Buch überstrahlt von der kulturellen und landschaftlichen Pracht - und von der einzigen wirklich goldenen Ära, dem innovativen und toleranten Königreich Sizilien unter den Normannen im 12. Jahrhundert sowie danach in der Zeit des sizilianischen Wunder-Staufers Friedrich II. Die Insel muss also tatsächlich fast 900 Jahre zurückgreifen, wenn sich - abgesehen vom Tourismus - grundlegend etwas bessern soll.

John Julius Norwich: Sizilien. Eine Geschichte von der Antike bis in die Moderne. Aus dem Englischen von Gerlinde Schermer-Rauwolf und Rita Seuß. Klett-Cotta, Stuttgart 2017. 367 Seiten , 26 Euro, E-Book 19,99 Euro.

© SZ vom 26.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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