Kulturgeschichte:Oh Gott! Was machen sie nur für einen Krach

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"Kometenjahre. 1918: Die Welt im Aufbruch": Der Historiker Daniel Schönpflug erzählt dicht an den Quellen, wie die Menschen nach dem Großen Krieg ihre Wege durch die neue Gegenwart suchten.

Von Stephan Speicher

Im Frühjahr 1920 unterhält sich Käthe Kollwitz mit einer jungen Frau aus ihrem Freundeskreis, Helene. Helene hat den Zusammenbruch des Kaiserreichs nicht mit Begeisterung aufgenommen, sie bedauert, ohne Mann und Kinder zu sein, aber nun will sie sich "treiben lassen, vielleicht reisen, zum Spielball der Zeitströmung werden". Wie tief muss das Gefühl der Verwirrung reichen, wenn eine offenbar eher konservativ empfindende junge Frau bereit ist, sich zum "Spielball" ihrer Zeit zu machen? Kollwitz ist von der Unterhaltung tief bewegt: "Wir suchen alle verschieden den Weg durch das komplizierte krampfige jetzige Leben zu finden." Sie selbst ist mit sich ähnlich uneins. Sie hegt Hoffnungen auf einen Sieg des Sozialismus, aber die Politik der Spartakisten scheint ihr unerträglich, dabei wird sie Wochen später voller Anteilnahme den Kopf des ermordeten Karl Liebknecht zeichnen. Als der überlebende Sohn von der Front endlich wieder zu Hause ist, hängt sie die deutsche Fahne heraus als Gruß an die heimkehrenden Soldaten. Und welche Fahne? Sie entscheidet sich für die schwarz-weiß-rote des Kaiserreichs, die "liebe deutsche Fahne" - allerdings mit einem roten Republikwimpel.

Diese Episoden erzählt Daniel Schönpflug, Historiker an der FU Berlin, in seinem Buch "Kometenjahre. 1918: Die Welt im Aufbruch". Es ist eine Art Lesebuch; kurze Stücke, biografisch angelegt, geben Auskunft über die Zeit vom Kriegsende bis etwa 1920, mit Ausflügen noch darüber hinaus. Die Personen, die mit ihren Aufzeichnungen oder Briefen das Material liefern, sind Künstler wie Käthe Kollwitz, Virginia Woolf oder Walter Gropius, Politiker wie Erzberger, Gandhi oder Ho Chi Minh, aber auch Menschen, die in Vergessenheit geraten sind oder nie bekannt wurden.

Virginia Woolf nimmt den Tag des Waffenstillstands nicht besonders ernst. Die Dienstmädchen sehen es anders und platzen herein, die Herrin: "Oh Gott! Was machen sie nur für einen Krach." Die Siegesfeiern kommen ihr vulgär vor, aber sie hat doch ein scharfes Auge für die sich anbahnenden Veränderungen - und die überkommene Lebensweise ihrer Klasse. In "Night and Day" beobachtet sie die Enge der englischen Gesellschaft. Welche Freiheit mag ihr Land in diesem Krieg verteidigt haben?

Dass mit dem Ende der alten Herrschaft sich die Menschen sexuell befreiten, das liest man oft. Stefan Zweig hat das emphatisch begrüßt; damit sei die Prostitution als ein massenhaftes Elend an ihr Ende gekommen. Bei Schönpflug liest man anderes: Ein Abend bei George Grosz entwickelt sich zu einer veritablen Orgie, junge Frauen, herangelockt mit der Aussicht auf Rollen beim Film, ziehen sich umstandslos aus. Grosz, sicherlich kein Prediger pfäffischer Moral, notiert eine "Welle des Lasters, der Pornographie und Prostitution". Aber tatsächlich sei die Zeit "müde und unlustig".

Die lebendigsten Berichte in diesem Buch stammen aus der Welt der Künste, vielleicht, weil sie eine neue Welt heraufziehen sieht. Piet Mondrian etwa hält die Vorherrschaft des Individuellen für das Zeichen der alten Welt, die Zukunft werde ein "ausgeglichenes Verhältnis des Universellen und des Individuellen" bringen - was, nimmt man es ernst, den Anbruch einer paradiesischen Zeit bedeuten müsste. Doch schon die starken Spannungen, die sich im Bauhaus entwickeln - der Maler Johannes Itten sammelt einen Kreis von Gefolgsleuten zu Knoblauchdiät, Meditation und Eurhythmie um sich, womit er auf den giftigen Protest von Walter Gropius stößt -, zeigen, dass die Welt weiterhin auf "ausgeglichene Verhältnisse" zu warten hat.

Und dann der Antisemitismus. Es sind nicht nur die Hinterwäldler in kleinen deutschen oder österreichischen Ferienorten, die es ablehnen, Juden zu beherbergen. Es machen einige der bedeutendsten Köpfe ihrer Zeit mit. Gropius führt die Umtriebe Ittens auf die Wirkung einer "geistvoll-jüdischen Gruppe" zurück, "da lehnten sich die Arier begreiflicher Weise auf". Wassily Kandinsky scheut sich nicht, in einem Brief an Schönberg über das "Judenproblem" zu reden und die Juden als eine vom Teufel "besessene Nation" zu bezeichnen.

Daniel Schönpflug: Kometenjahre. 1918: Die Welt im Aufbruch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 320 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro. (Foto: N/A)

Auf knappem Raum schlägt Schönpflug einen weiten Bogen. Die irische Unabhängigkeitsbewegung kommt zur Sprache, Indien mit Mahatma Gandhi und Vietnam mit Ho Chi Minh, der zu der Zeit noch Nguyen Tat Tanh heißt, die Sowjetunion natürlich oder der Völkermord an den Armeniern. Das funktioniert nicht immer. Der Kampf Indiens oder Vietnams um nationale Unabhängigkeit ist zu komplex, das Vorverständnis der deutschen Leser zu beschränkt, als dass die Methode der knappen biografischen Szene hier weiterführte. Der junge Ho Chi Minh trifft als Tellerwäscher in der Küche eines Londoner Luxushotels auf den französischen Meisterkoch Escoffier und lernt bei ihm kurze Zeit. Ja, das ist eine Episode, die man nicht mehr vergisst. Aber ihre Kenntnis bedeutet nicht gerade einen wertvollen geistigen Besitz. Eindrucksvoll dagegen, auch weil diesmal unser Vorverständnis weiterhilft, sind die Erzählungen von den schwarzen Truppen der amerikanischen Armee in Europa. Sie werden anfangs von den Weißen gering geschätzt, für Hilfsdienste verwendet oder dort, wo die drohenden Verluste zu schrecklich werden, eingesetzt. Doch sie bewähren sich großartig, sie wollen sich als ebenbürtig erweisen. Das ersehnte Ziel für die Soldaten der "Harlem Hellfighters" ist die große Parade durch Manhattan. Und wirklich treffen sie auf einen Sturm der Begeisterung. An diesem Tag, so stellt es ein Offizier fest, "kennt New York keine Hautfarben". Dem großen Tag folgen bald wieder andere, aber ein Anfang ist gemacht. Der Krieg ist grausam, doch er ist auch ein großer Gleichmacher.

Schönpflugs "Kometenjahre" ist eine höchst unterhaltende Lektüre, nicht etwa eine Kulturgeschichte der ersten Zwischenkriegsjahre, eher eine Materialsammlung. Dabei erteilt der Autor nicht den Zeitzeugen das Wort, er erzählt selbst (und ausgezeichnet), aber er folgt den Quellen und das auch dort, wo sie stark subjektiv eingefärbt sind, ja verbrieften Tatsachen widersprechen. Das spricht er freimütig aus, getäuscht wird der Leser nicht. Ein Kommentar, der die Schilderungen in ihrer gelegentlich fantastischen Farbigkeit mit dem konfrontiert, was man heute weiß, wäre trotzdem nicht verkehrt gewesen.

Und doch hat das Schönpflugsche Verfahren, auch wo man ihm widersprechen möchte, ein Wahrheitsmoment von grundsätzlicher Bedeutung. Der Historiker hat nicht allein die Aufgabe, das Publikum mit ihm unbekannten Begebenheiten oder Deutungen zu beliefern. Er sollte, gelegentlich zumindest, in ihm ein erneuertes Empfinden wecken für das Gewicht der Vergangenheit, das Gewicht der Dinge, mit dem sie einst auf den Beteiligten lasteten. Und das ist Schönpflug ganz gewiss gelungen.

© SZ vom 10.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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