Kulturgeschichte:Goethes Unterhose

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Bruno Preisendörfer hat ein kurzweiliges Kompendium über die Zeit um 1800 geschrieben.

Von Tobias Lehmkuhl

Wie es um die Einheit Deutschlands um das Jahr 1800 bestellt war, bringt Justus Möser folgendermaßen auf den Punkt: "Wir kommen nicht einmal zu einem rechten Nationalfluche, jede Provinz flucht und schimpft anders." Das könnte man freilich auch positiv, im Sinne der Vielfalt auffassen, und auch heute noch flucht man in München anders als in Hamburg (falls man es dort überhaupt tut), was die bundesrepublikanische Geschlossenheit allerdings kaum gefährdet.

Carl Julius Weber hat, wenn auch keinen Nationalfluch, so doch immerhin ein deutsches Nationalspiel, das Kegeln, und eine deutsche Nationalkrankheit, die philosophische "Systemsucht", ausgemacht. Letztere dürfte, ohne größere Impfanstrengung, inzwischen als ausgerottet gelten, das Kegeln soll dagegen in manch ländlichen Gegenden weiter grassieren.

Wie dem auch sei: Einig Deutschland lag damals noch in weiter Ferne und war so schwer vorstellbar wie die Weltherrschaft Chinas, das für Johann Gottfried Herder lediglich ein Land war, das "im östlichen Winkel Asiens unter dem Gebirge liegt".

Einig Deutschland lag damals noch in so weiter Ferne wie die Großmacht China

Dabei war Herder, wie fast alle, ein in Weimar Zugezogener und wusste wenigstens noch, wie es in anderen Gegenden Deutschlands aussah und zuging. Wie es wiederum in Weimar zuging, davon berichtet Bruno Preisendörfer in "Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit". Auch Berlin nimmt er in seiner umfangreichen, gleichwohl äußerst kurzweiligen Kulturgeschichte genauer in den Blick. Ausflüge an den Rhein, die Nordsee oder das Alpenvorland aber entfallen weitgehend, was auch das Einzige ist, das man diesem munter geschriebenen Buch - zugleich eine wahre Schatzkiste an Zitaten - vorwerfen kann. Wie groß die Unterschiede auf dem Gebiet des späteren deutschen Reiches in Sachen Kleidung, Essen oder Sexualität also gewesen sein mögen: Diese graduellen Abweichungen zu bemessen bleibt der Wissenschaft vorbehalten. Der Kampf gegen die "Selbstbefleckung", gegen "Sodomie" und "Knabenliebe" dürfte überall, so viel lässt sich sagen, ähnlich ausgeprägt gewesen sein. Wunderheiler zogen durch das ganze Land, und das Gesinde hatte hier wie dort zu leiden.

Galgen standen zudem vor jeder Stadt, wobei im Süden offenbar größerer Bedarf bestand: "Der Bayer ist falsch, grausam, abergläubisch und verwegen", schreibt Wilhelm Ludwig Wekhrlin, ein Schwabe, 1778, "nirgendwo trifft man mehr Räder, Galgen und Schergen an als in Bayern." Auch die Kindersterblichkeit war in allen Landesteilen erschreckend hoch, was sich im Zuge der Aufklärung aber langsam zu bessern begann. So entwickelte Friedrich Schillers Hausarzt Johann Christian Stark einen Gebärstuhl, schrieb Ratgeber ("Hebammenunterricht in Gesprächen") und führte erfolgreich Kaiserschnitte durch.

Bruno Preisendörfer: Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit. Galiani Verlag, Berlin 2015. 528 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 21,99 Euro. (Foto: Galiani)

"Nach allem, was wir wissen, trug Goethe keine Unterhosen", konstatiert Preisendörfer mit dem ihm eigenen Witz, wenn auch nicht allein des Witzes wegen: Ihn interessiert die Kleidung der damaligen Zeit, und eben nicht nur die Oberbekleidung. Er führt den Leser in die Wissenschaft von Bändern und Hauben ein, kritisiert die Schnürbrust und unternimmt auch einen "Exkurs über Holz, Kohle, Eisen und Schnaps". Nebenbei erfährt man, dass Baumwolldochte besser waren als solche aus Leinen, denn diese musste man öfter "schneuzen" (also kürzen).

Ob in weiteren Kapiteln wie "Stadtleben", "Ehe und Familie" oder "Gesundheit, Krankheit, Tod" - Preisendörfer weiß sein Material geschickt zu bündeln. Dabei bietet er ein anschauliches Porträt der Goethezeit, die uns in vielem wohlvertraut erscheint, in manchem, wie den Therapiemethoden der Psychiatrie, aber auch sehr fremd. Andersherum würde sich Goethe ganz gewiss verwundern, erzählte man ihm, dass Männer 200 Jahre später nicht nur Unterhosen, sondern sogar solche mit den Namen fremder Männer darauf tragen würden.

© SZ vom 24.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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