Kritik:Der erste Griff

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T. S. Eliot, geboren 26. September 1888, gestorben 4. Januar 1965. In seiner Lyrik ("Das wüste Land") und seinen Stücken ("Die Cocktailparty") gibt es Spuren seines Krimi-Interesses. (Foto: SZ Photo)

Das "Schreibheft" präsentiert den Dichter T. S. Eliot als einen kundigen Krimileser. Er schreibt sachkundig und ironisch zugleich. Liebevoll widmet er sich Sherlock Holmes.

Eine ästhetische Instanz, die sich auch - oder gerade - fürs Krimigenre stark interessierte: T. S. Eliot, der Ende der Zwanzigerjahre unglaublich kompetent die neuen Krimis rezensierte, in der Zeitschrift The Criterion , 1927/28. Schöne Proben dieser Rezensionskunst sind nun in einer Abteilung des neuen Schreibhefts zu lesen (Nr. 88, zusammengestellt von Gerd Schäfer, übersetzt von Georg Deggerich). Eliot schreibt als Fan und als Kritiker zugleich, also sachkundig und ironisch, über Romane von Wilkie Collins, R. Austin Freeman, S. S. Van Dine - Autoren, die auch bei uns vor einem Vierteljahrhundert in den Taschenbuch-Krimireihen noch präsent waren, die nun vergessen sind. Außerdem, sehr liebevoll, über Sherlock Holmes:

" Sherlock Holmes erinnert uns stets an die angenehmen Äußerlichkeiten Londons im neunzehnten Jahrhundert. Ich glaube, er wird dies weiterhin auch für jene tun, die keine Erinnerung an das neunzehnte Jahrhundert haben. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie es wäre, ihn zum ersten Mal in dieser Ausgabe ohne die alten Illustrationen zu lesen ... Ein Kritiker ist stets dankbar, wenn er das, worüber er schreibt, mit etwas anderem vergleichen kann. Aber mir kommt nichts in den Sinn, mit dem ich Sherlock Holmes vergleichen könnte. Er scheint weder von Inspektor Cuff noch von Monsieur Dupin abzustammen. Seine Beziehung zu Lecoq ist weitgehend oberflächlich. Andererseits hat er eine reiche Nachkommenschaft. Genau wie Professor Moriarty. Bloß Mycroft Holmes, dieser kolossale Genius, hat, sowie ich weiß, keine Nachfahren. In Arsène Lupin, sogar in Raffles, erkennen wir die Züge von Robin Hood. Holmes aber war immer verschwiegen in Familiendingen. Tatsächlich hat er keine Familie, über die er Verschwiegenheit währen müsste. Ein anderes, vielleicht sogar das größte Geheimnis um Sherlock Holmes, ist dieses: daß, wenn wir über ihn sprechen, wir uns unweigerlich vorstellen, er habe tatsächlich existiert ... Es war falsch von Holmes, zum Bergsteigen in die Schweiz zu fahren, wo er sich in London viel besser vor Moriarty hätte verstecken können. Die beiden letzten Bücher zeigen seinen geistigen Verfall - er wiederholt sich. In His Last Bow (dt. Seine Abschiedsvorstellung) läßt er sich auf das Niveau von Bulldog Drummond herab. Er verwendet zum zweiten Mal den Namen Carruthers für eine neue Figur und wiederholt ebenso den Namen Lucas für einen zwielichtigen ausländischen Gentleman aus bescheidenen Verhältnissen. The Lion's Mane (dt. Die Löwenmähne) und The Devil's Foot (dt. Der Teufelsfuß) sind lediglich Übungen in Naturkunde und eines Detektivs unwürdig. Und dennoch, würden sämtliche zeitgenössischen Kriminalautoren gleichzeitig ein neues Werk veröffentlichen, und eins davon wäre ein neuer Holmes, würden wir als erstes zum Holmes greifen.

Natürlich liegt seine Stärke eher in seinem dramatischen Talent als in seinen rein detektivischen Fähigkeiten. Aber es ist ein dramatisches Talent, das mit viel Geschick und Konzentration eingesetzt und nicht wahllos vergeudet wird. Der Inhalt einer Erzählung mag dürftig sein, aber die Form ist nahezu immer vollkommen."

© SZ vom 04.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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