Kommentar:Wechselspannung der Hirnströme

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Klassik gilt als fade, Jazz als zeitgemäß. Soweit das Vorurteil. Nun wollte eine Wissenschaftlerin das als Wahrheit beweisen. Aber dabei kam ihr die Versuchsanordnung in die Quere.

Von Helmut Mauró

Zu Zeiten Bachs und dann erst wieder bei Loriot war ein Klavier ein Klavier. Wer gelernt hatte, darauf zu spielen, beherrschte alle Klaviaturen: das Cembalo, die Orgel, das Hammerklavier. Heute ist das anders. Organisten sind ein eigener Berufsstand mit einem eigenen musikalischen Repertoire, Cembalisten widmen sich der Barockmusik, nur den Pianisten unterstellt man weiterhin, sie könnten alles. Leider ist das aber nicht so. Der fundamentalste Unterschied besteht wohl darin, auf der Klaviatur die Noten eines komponierten Stückes zu spielen oder selber während des Spielens ein Stück zu erfinden. Das nennt man Improvisieren und das gilt als kreativ. Das Andere nennt man klassische Musik, und es gilt als cool, diese langweilig zu finden.

Die Leipziger Neuropsychologin Daniela Sammler wollte sich mit diesen Vorurteilen nicht zufriedengeben und hat mit einer Arbeitsgruppe den Beweise angetreten, dass klassische Musiker tatsächlich langweiliger sind als Jazzer. Letztere hätten nämlich weniger Probleme mit Harmoniefehlern, sie machten einfach aus der Not eine Tugend und erfänden spontan einen neuen Akkord. Die Versuchsanordnung, bei der fünfzehn Klassiker und fünfzehn Jazzer antraten, um das Spiel eines Pianisten zu imitieren, hatte aber den musikalisch relevanten Nachteil, dass der Ton abgedreht war; sowohl beim vorspielenden Pianisten auf dem Computerbildschirm als auch beim E-Piano, auf dem die Musiker das Gesehene nachspielten. Der Grund: die Hirnströme des Hörens würden sonst jene Prozesse überlagern, die die Handbewegung steuern. Und um die ging es in diesem Experiment.

Es waren also vielleicht gerade jene Musiker hierbei im Nachteil, die das Gesehene in Klangvorstellungen übersetzten, um es nachzuspielen. Wer dagegen einfach das Bewegungsbild kopierte, agierte spontaner und hatte auch kein Problem mit falschen Tönen. Aber ist der lässige Umgang mit letzteren wirklich ein Zeichen von Kreativität im Sinne eines Schöpfungsprozesses? Oder ist Improvisation nur ein anderes Wort dafür, nichts zu verlieren zu haben? Wie bei der Erschaffung und Erhaltung der Welt im Großen wie im Kleinen geht es auch hier um zwei Kategorien: Abgrenzung und Abweichung. Die Materie bedarf der Grenze, wenn sie leben soll, die Zellmembran erlaubt aber auch die streng kontrollierte Grenzüberschreitung, den molekularen Austausch.

Von solch einem Austausch lebt auch die Musik, und spannend wird sie, wenn die Abweichung hinzukommt, die unerwartete Dissonanz, die dann wohltuend aufgelöst wird. Ob das kompositorisch vorgefertigt ist oder im improvisatorischen Moment des Jazz erfunden wird, ist nicht entscheidend. Oft ist das Komponierte auch niedergeschriebene Improvisation. Bei Beethoven gibt es das. Bei guten klassischen Pianisten klingt das dann auch so. Haben die nun die Hirnstromspannung des Jazz?

© SZ vom 10.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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