Kommentar:Semis Stimme

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Warum man Josef Bierbichlers "Mittelreich" hören sollte

Von Karl Forster

Es war vor ein paar Jahrzehnten. Da wurde Sepp Bierbichler von einem Journalisten gefragt, ob er nicht ein damals irgendwie relevantes Buch in einer Lesung vorstellen wollen würde. Bierbichler sagte mit der damals schon unvergleichlich sanften Stimme, die nicht den Hauch eines Widerspruchs duldete, sinngemäß, Lesungen seien etwas für Menschen, die nicht lesen könnten; und das wolle er nicht unterstützen. Die Meinung hat sich geändert, die Stimme kaum. Das hört, wer Bierbichlers Mehr-oder-weniger-Roman "Mittelreich" nicht lesen wollte oder konnte, weil er immer Gestalt und Stimme vor dem geistigen Auge hatte und deswegen die von ihm selbst gelesene Hörbuchvariante wählt.

Von Vorteil ist natürlich, wenn man nicht nur in seinem Leben ein paar Sätze mit dem Autor gewechselt hat, sondern auch den (höchstwahrscheinlichen) Ort des Geschehens näher kennt, also den Fischmeister in Ambach am Starnberger See. Idealiter hat man auch ein paar Jahre in einem bayerischen Klosterinternat verbracht. Denn dann erschließt sich Bierbichlers "Mittelreich" als ein tief ins Leserherz treffendes Stück Bewältigungsliteratur, das nicht nur durch eine etwas seltsame, aber immer treffende Sprache und Dramatik fasziniert, sondern das - vor allem - die Schlüsselgeschehnisse so geschickt drapiert, dass man wirklich nur eine CD pro Tag verarbeiten kann. Nicht nur, aber auch, weil man an den damaligen Präfektenpater denkt, der einem zwar nicht, wie in "Mittelreich", sein Sperma ins Gesicht spritzte, aber doch gerne ausführlichst über sogenannte Aufklärungsthemen schwätzte. Als man von seinem Ableben erfuhr, war die Trauer endenwollend.

Der, der in "Mittelreich" dann seinen die Mönchskutte auf Nabelniveau hebenden Quälgeist nach allen Regeln der Schweineschlachtkunst ins Jenseits befördert (oder, als Autor, aufs Heftigste davon träumt), wird "Semi" gerufen. Nimmt man die anderen dezenten Verfremdungen rund um den Fischmeister als Maßstab, ist es von Semi bis Seppi bis Sepp bis Josef nicht weit. Um so mehr greift es einem ans Herz, wenn Josef Bierbichler auch die Semis Herz und Gefühlswelt zerstörenden Szenen mit fast derselben kunstvollen Gleichgültigkeit liest wie den Rest der Viel-Generationen-Geschichte. Ein leichtes Heben der Stimme, eine kaum merkliches Mehr an Tempo wirken wie ein Brandbeschleuniger.

Josef Bierbichler will mithelfen, sein Buch zu verfilmen. Es ist sehr fraglich, ob jene, die das Buch nicht gelesen, sondern gehört haben, es auch sehen wollen. Die sanfte Stimme, sie geht einem nicht aus dem Kopf.

© SZ vom 21.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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