Kleine Geschichte des Graffiti:Bitte nicht einsteigen

In München werden falsche Türen auf die S-Bahn gesprüht, in Hamburg steht ein 60-jähriger Senioren-Sprayer vor Gericht: Wer hat das eigentlich angefangen, Wände mit Graffiti zu beschreiben?

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WALTER JOSEF FISCHER GRAFFITI-SPRAYER

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In München werden falsche Türen auf die S-Bahn gesprüht, durch Hamburg zieht ein 60-jähriger Senioren-Sprayer: Wer hat eigentlich mit Graffiti angefangen?

Der Mann ist, was seine Sprayer-Tätigkeit angeht, überaus fleißig: Auf 120.000 Stück schätzt die Hamburger Polizei das Gesamtkunstwerk, mit dem der Sprayer OZ, so sein Kürzel, sich in der Hansestadt verewigt hat. Weil das sehr viel ist, vermutete man eine ganze Bande dahinter. Das Gericht, vor dem der 60-Jährige nun wieder einmal steht, wird, sieht das anders.

So skurril die Geschichte des unbelehrbaren Senioren-Sprayers klingt: Graffiti und Street Art sind nicht nur in Hamburg, sondern von Wladiwostok bis São Paulo fester Bestandteil der Alltagskultur.

Text und Bildauswahl: Jassien Kelm/sueddeutsche.de/rus/kar/bgr

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Quelle: AFP

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Als bekanntester Graffiti-Sprayer unserer Zeit gilt der britische Guerilla-Künstler Banksy, dessen Identität unbekannt ist. Wie viele andere Street-Art-Künstler wendet er zumeist Schablonentechniken an (sogenannte Stencils). Banksys Arbeiten stehen zum großen Teil für politisches Graffiti - und oft für reichlich schwarzen Humor.

In New Orleans (im Bild) thematisierte er die Plünderungen nach dem Hurrikan Katrina, an denen gerüchteweise Mitglieder der US-Nationalgarde beteiligt gewesen sein sollen. Ihre Magie ...

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Quelle: AP Photo

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... entfalten seine Werke oft erst unter Einbeziehung der Umwelt: Das Bild dieser Friedenstaube in kugelsicherer Weste in den besetzten Gebieten in Palästina etwa ...

graffiti

Quelle: picture-alliance/ dpa

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... wirkt hinter einem bewaffneten Polizisten umso eindringlicher: Ein satirischer Beitrag zum Nahostkonflikt. Doch der Brite war keinesfalls der Erste, der sich illegalerweise an Gebäuden verewigte:

kyselak

Quelle: ORF

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Der Ursprung des modernen Graffito à la Banksy liegt in Schriftzügen, mit denen Gangs ihr Revier markierten. Schon wesentlich früher schmierte jedoch ein dreister Beamter am Hofe Kaisers Franz I. die Wände voll. Die Inschriften eines Schiffsinspektors hingegen sorgten während des Zweiten Weltkriegs für weltweite Verwunderung - angeblich auch bei Adolf Hitler und Josef Stalin. Aber der Reihe nach:

Als Vorläufer moderner Graffiti gelten die Inschriften Joseph Kyselaks (1799 - 1831). Der Wiener Hofbeamte pflegte seinen Namen mit schwarzer Ölfarbe an Gebäuden und Felswänden zu hinterlassen. Das brachte ihm einigen Ärger ein, denn schon damals waren den Leuten Schmierereien auf der Hauswand tendenziell unlieb. Zwar existierte im Wien der frühen Neuzeit noch keine Sonderkommission Graffiti, dennoch kam man ihm auf die Schliche.

Bald erzählte man sich folgende, nicht verbürgte Geschichte: Nachdem Kyselak einst ein kaiserliches Gebäude signiert hatte, wurde er zu Kaiser Franz I. zitiert. Dieser untersagte ihm, jemals wieder seinen Namen irgendwo hinzuschmieren. Nachdem der Zurechtgewiesene gegangen war, soll Franz I. einen eingeritzten Namen auf seinem kaiserlichen Schreibtisch entdeckt haben: Kyselak.

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Quelle: Ini Prochazka/wikimedia commons

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Noch heute sind einige Original-Schriftzüge erhalten, etwa an einem Obelisken im Wiener Schwarzenbergpark (im Bild). Da Kyselak weitgereister Alpinist war, prangt der Name auch an Felswänden und Ruinen in Österreich, Bayern, Südtirol und Slowenien. Den meisten Bergwanderern, die die 200 Jahre alten Inschriften erblicken, dürften sie ein Mysterium sein.

Der Name des schreibwütigen Hofbeamten lebt sogar in der Literatur weiter. Ein Gedicht des Karlsruher Schriftstellers Joseph Victor von Scheffel (1826 - 1886) schließt ehrfürchtig mit folgenden Zeilen:

Schwindlig ob des Abgrunds Schauer

ragt des höchsten Giebels Zack,

und am höchsten Saum der Mauer

prangt der Name - KISELAK!

kilroy

Quelle: Luis Rubio

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Amerika, 20. Jahrhundert: Nach dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg läuft die US-Schiffsproduktion auf Hochtouren, Schiffsinspektor James J. Kilroy kontrolliert die Fertigung. Damit niemand die bereits geprüften Teile erneut inspiziert, markiert er sie mit Kreide: Kilroy was here - Kilroy war da. Später finden US-Soldaten den Satz an den unzugänglichsten Stellen in ihren Schiffen. Für sie ist er ein Mysterium: Wer zum Teufel ist dieser Kilroy? Und warum ist er immer zuerst dagewesen?

Obwohl ihn niemand kennt, ist Kilroy in aller Munde. Wilde Gerüchte über die Identität des Unbekannten verbreiten sich. Bald entsteht ein Wettbewerb: An neuen Einsatzorten gilt es, den Satz heimlich an eine prominente Stelle zu schreiben - um später zu behaupten, er habe schon dagestanden. Begleitet wird Kilroy häufig von einem stilisierten Gesicht, das verstohlen hinter einer Mauer hervorlugt.

Der Name wird auch hinter den feindlichen Linien von Soldaten und Spionen verewigt. Bald macht eine Geschichte die Runde, die schwer verifizierbar ist: Hitler, gegen Kriegsende von Paranoia geplagt, soll panische Angst bekommen, wann immer er von dem Super G.I. hört oder liest: Wenn, so des Führers Phobie, dieser US-Soldat in der Lage ist, unbemerkt an alle erdenklichen Ort zu gelangen, so müsste es für Kilroy auch ein Leichtes sein, ihn, Hitler, zu töten.

Und nicht nur diesen Diktator ...

kilroy

Quelle: SZ

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... soll Kilroy verunsichert haben. Der US-Autor Charles Panati beschreibt einen Vorfall, der sich während der Potsdamer Konferenz 1945 zugetragen habe: Für ein vertrauliches Gespräch betrat Josef Stalin ein neu errichtetes Gebäude, das ausschließlich für ihn, Winston Churchill und Harry Truman reserviert war. Beim Verlassen des Gebäudes hörte ein Dolmetscher Stalin mit verblüfftem Gesichtsausdruck fragen "Wer ist Kilroy?".

Heute hat diesen Slogan jeder zumindest unbewusst einmal an der Toilettenwand oder in einer Unterführung gelesen. Laut Panati soll der Satz auf den Gipfel des Mount Everest, an die Fackel der Freiheitsstatue, auf die Unterseite des Pariser Triumphbogens, auf die Marco-Polo-Brücke in China, auf Hütten in Polynesien, auf einen Träger der George-Washington-Brücke in New York sowie von einem Astronauten in Mondstaub geschrieben worden sein.

Kilroy hielt Einzug in die Populärkultur, es gibt zahllose Anspielungen in Filmen, TV-Serien und Videospielen. Die weltbekannte Rockband Styx nannte ihr elftes, 1983 erschienenes Studioalbum Kilroy was here (Die Platte blieb hinter den Erwartungen zurück und leitete schließlich den Untergang der Band ein). Auch der Schriftsteller Thomas Pynchon erwähnt Kilroy in einem seiner Romane.

Der alte Schiffsinspektor hat womöglich nie erfahren, dass sein Name sich auf dem gesamten Erdball verbreitete.

Doch seit dem berühmten Kilroy hat sich in der Szene einiges getan: 

Genmanipulierter Maiskolben

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Das Phänomen der Graffiti (eigentlich Plural; Einzahl: Graffito, nicht gebräuchlich) wie wir es heute kennen, hat mit Kilroy und Wiener Hofnarren nur noch wenig zu tun. Seinen Ursprung hat die aktuelle Bewegung im Philadelphia der sechziger Jahre, hier wird Graffiti zum Kult. Das Schreiben des eigenen Namens an Wände nennt man jetzt taggen, es gilt, sein Tag überall in der Stadt zu verbreiten, um Bekanntheit, oder neudeutsch Fame, zu erfahren.

Es ist die Blütezeit der Gang-Graffiti, deren Schöpfer noch keinen künstlerischen Anspruch an ihre Arbeit erheben. Die Namen dienen - hier finden sich verhaltenspsychologische Parallelen zur Tierwelt - lediglich der Markierung des Reviers. Als schwere Beleidigung wird es angesehen, eine solche Markierung zu crossen, das heißt, sie ganz oder teilweise zu überschreiben.

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der Name Cornbread (Maisbrot). 1967 wird unter diesem Pseudonym der Jugendliche Darryl McCray in Philadelphia stadtbekannt, er gilt als Vater moderner Graffiti. Um einem Mädchen zu imponieren, bringt er sein Pseudonym an allen möglichen, oder besser unmöglichen Orten an. So taggt er neben Polizeifahrzeugen und städtischen Gebäuden auch einen Elefanten im Philadelphia Zoo oder den Privatjet der Jackson Five. Als erster Writer verwendet Cornbread die später oft kopierte Krone als festes Stilelement seiner Tags.

GRAFFITI ART

Quelle: AP

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Anfang der siebziger Jahre greift das Phänomen auf New York über, maßgeblich verantwortlich ist ein weitverbreiteter Name samt Ziffernfolge: TAKI 183. Die Stadt rätselt, wer Urheber dieser Kritzelei sein könnte. Ein Bericht der New York Times vom 21. Juli 1971 enthüllt schließlich das Geheimnis:

bahn graffiti

Quelle: New York Times

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Verantwortlich ist ein griechischer Botenjunge namens Dimitaki. Während seiner Botengänge verbreitet er sein Tag. Scharen von Nachahmern verewigen sich daraufhin an den Wänden New Yorks. Bis jemand auf die Idee kommt, ...

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Quelle: Associated Press

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... seinen Namen an die U-Bahn zu schreiben. Statt an einem Ort auf Betrachter zu warten, fährt der Name jetzt durch die Stadt, das "Einzugsgebiet" einzelner Tagger vergrößert sich. Die Buchstaben werden nun häufig umrandet - erst schwarz, später farbig - um die Tags größer und dynamisch wirken zu lassen. Während die Writer dekorative Elemente (Sterne, Kronen) in ihre Werke einarbeiten, erklärt der New Yorker Bürgermeister John Lindsay den War on Graffiti. Jeder Bürgermeister der Stadt wird sich künftig dieser Problematik annehmen, da sich die New Yorker zunehmend an den Schmierereien stören.

Die Reinigung von Gebäuden und Verkehrsmitteln erzeugt bald in vielen Städten hohe Kosten, die Polizei gründet Sonderkommissionen. In der Bundesrepublik Deutschland wird der durch Graffiti verursachte Schaden später einmal 500 Millionen Euro pro Jahr betragen.

Graffiti-Künstler stellen am Wochenende in Chemnitz aus

Quelle: dpa

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In den siebziger Jahren entsteht eine neue urbane Subkultur, die das Graffiti wesentlich beeinflusst: der Hip Hop. Obwohl das Graffiti-Writing schon zuvor existierte, gilt es neben dem Sprechgesang (MCing) und dem Tanz (B-Boying) als eines der wesentlichen Elemente jener gesellschaftlichen Strömung.

graffiti

Quelle: Thomas Max Müller/pixelio.de

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Heute gibt es Graffiti in allen erdenklichen Formen und Farben. Die Bandbreite moderner Graffiti reicht von detailliert ausgearbeiteten Porträts bis zu ...

graffiti

Quelle: Rike/pixelio.de

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... Werken von eher minimalistischer Natur.

bahn graffiti

Quelle: SZ

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Für Ärger sorgen die Sprayer bis heute, zum Beispiel dieses Bild auf einem Bahnwagen in München - die Fotos verbreiteten sich im November 2010 über Twitter. Man muss schon sehr genau hinsehen, um zu erkennen, dass die weiße Doppeltüre ...

bahn graffiti

Quelle: SZ

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... gar keine Türe ist. Sie wurde von Sprayern in hinterlistiger Absicht aufgemalt - inklusive Fenstern, schwarzen Gummidichtungen sowie einem Druckknopf. Die tatsächliche Türe (links) lackierten sie rot und täuschten ein Fenster vor. Die Bahn musste Hinweisschilder anbringen, um Fahrgäste vom "Einsteigen" in die virtuelle Doppeltüre abzuhalten.

GERMANY-BERLIN-WALL-KISS

Quelle: AFP

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Graffiti ist inzwischen überall, alle Motive denkbar. So wurde auch der berühmte Bruderkuss zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker in einem Graffito festgehalten, ...

VENEZUELA-OPPOSITION-MARCH-POLICE

Quelle: AFPPHOTO

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... einen ironischen Kontrast zu den bewaffneten Soldaten bildet dieses Graffito in Caracas, Venezuela: Bienvenidos lässt sich mit "Herzlich Willkommen" übersetzen. Ob Im Vor- oder Nachhinein politisch ...

graffiti

Quelle: Ulrich Blanché

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... oder im Wettbewerb um die größtmögliche Darstellung, wie hier in London, ...

graffiti

Quelle: Felix Gaedtke

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... oder um das auffälligste Motiv, wie diese Arbeit eines brasilianischen Künstlers in São Paulo: Längst nicht alle Graffiti sind als Vandalismus zu verstehen.

balls

Quelle: thepoke.co.uk

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Und weil Freundschaften, Shopping und überhaupt das wahre Leben bekanntlich zunehmend ins Internet abwandern, gibt es auch den Sprayer inzwischen virtuell: Viel Beachtung im Netz fand kürzlich dieses Bild der Downing Street 10, seit 1902 Residenz des jeweiligen britischen Premierministers.

Wirklich besprüht hatte das streng bewachte Gebäude natürlich keiner - es handelte sich dabei um die Fotomontage einer britischen Satirewebsite.

© sueddeutsche.de/kelm
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