Klassikkolumne:Uhrmachermusik?

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Neue Einspielungen von Werken Maurice Ravels, Sergei Prokofjews, Modest Mussorgskys und französisch-russische Spätromantik.

Von Julia Spinola

Maurice Ravel hatte ein Faible für mechanisches Spielzeug, Uhren, Nippes und Spieldosen. In seiner Musik erschloss er die Magie kindlicher Märchenwelten mit der Präzision eines "Schweizer Uhrmachers" - wie sein russischer Kollege Igor Strawinsky spottete. Oft diente ihm dabei die Logik der schwarzen und weißen Tasten als Ausgangspunkt. Auch die Werke, die der französische Dirigent François Xavier-Roth nun eingespielt hat, sind ursprünglich für Klavier komponiert worden: das Ballett "Ma mère l'oye", die Orchestersuite "Le Tombeau de Couperin" und eine frühe "Shéhérazade"-Ouvertüre, die Ravel im Alter von 24 Jahren schrieb. Aber erst in Ravels meisterhafter Instrumentierung verströmen sie ihren ganzen Zauber. Wie genau dieser klanglich ausgehört ist, macht Roths Ensemble Les Siècles hörbar, das auf Originalinstrumente der Jahrhundertwende spezialisiert ist. So zart, transparent und zugleich charakteristisch entfaltet sich der flüchtige Zauber von Ravels künstlichen Paradiesen, dass der gewohnte Klang moderner Orchester dagegen geradezu plump wirkt. Dass man Ravel nach der Erfahrung dieser Aufnahme am liebsten gar nicht mehr anders hören will, liegt auch an den pulsierenden Tempi, der genauen Phrasierung und der atmenden Agogik, die Roth walten lässt (harmonia mundi).

Die Verbindung zwischen Frankreich und Russland interessieren den Cellisten Christian-Pierre La Marca und die Pianistin Lise de la Salle. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich viele Franzosen nach Russland aufgemacht, um Arbeit zu finden, während russische Industrielle und Künstler darauf hofften, begünstigt durch die Weltausstellungen von 1878 und 1889, in Frankreich reich und berühmt zu werden. Die CD "Paris - Moscou" kombiniert Werke der russischen und französischen Spätromantik und der frühen Moderne. Sergej Rachmaninows Sonate für Cello und Klavier op. 19 entfaltet im hoch expressiven Spiel der Musiker einen hitzigen, wild-romantischen Atem. Gabriel Faurés berühmte Charakterstücke "Pavane", "Elégie" und "Sicilienne" profitieren vom singenden Celloton La Marcas. Dem dahinterstehenden Ideal der menschlichen Stimme wird in Transkriptionen von Opernarien aus Camille Saint-Saëns' "Samson et Dalila" und Jules Massenets "Werther" nachgespürt, während Lise de la Salle im Marsch aus Sergej Prokofjews "L'amour des trois oranges" Gelegenheit erhält, ihr pianistisches Temperament auszuleben. (sony)

Den großen Ausdrucksradius der Musik Sergei Prokofjews präsentieren der Geiger Aylen Pritchin und der Pianist Yury Favorin, zwei fulminante Interpreten aus Russland. Der lyrische Zyklus der Fünf Melodien op. 35 bis von 1925, den Prokofjew nach Vokalisen schrieb, die er 1920 für die Sängerin Nina Koshetz komponiert hatte, hat im nuancierten Spiel der beiden Musiker eine hinreißende Anmut und fast kindliche Unschuld. Der glockenhelle Klavierklang Favorins und Pritchins zart gesponnene Violinkantilenen lassen Prokofjews Nähe zum Impressionismus, seinen Sinn für auratische Naturstimmungen spüren, deren Traumverlorenheit immer auch ihre melancholische Seite hat. Auf Wunsch des Geigers David Oistrach arrangierte Prokofjew 1944 seine Flötensonate zur heute viel bekannteren 2. Sonate für Violine und Klavier. Jede neue Interpretation muss sich dem Vorbild des begnadeten Prokofjew-Interpreten Oistrach stellen - und sei es in bewusster Abgrenzung. Pritchin stellt sich mit seinem flötengleich singenden Ton mutig in die Oistrach-Tradition und kommt dem großen Vorbild verblüffend nah. Einen geradezu niederschmetternden Ausdrucksernst erreichen Pritchin und Favorin in ihrer tiefen musikalischen Durchdringung der späteren, sogenannten 1. Sonate für Violine und Klavier von 1938 bis 1946. Abgründiger, schwärzer als in dieser seelenvollen Interpretation hört man dieses Werk selten. (Melodiya)

Das Klavierwerk Modest Mussorgskys verschwindet meist im Schatten seines Zyklus "Bilder einer Ausstellung". Dabei hat Mussorgsky, der ein brillanter Pianist war, zeitlebens für das Klavier komponiert, begonnen mit einer im Alter von 13 Jahren komponierten "Fähnrichspolka" und dem fünf Jahre später entstandenen "Souvenir d'enfance". Die Pianistin Viktoria Postnikova und der Pianist Alexander Bakhchiev stehen im Zentrum einer reizvollen chronologischen Zusammenstellung, die mit Aufnahmen von Maria Yudina und Samuil Feinberg zugleich auch an die große russische Klaviertradition erinnert. (Melodiya)

© SZ vom 15.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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