Klassik:Die Gewalt der Kontraste

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Das Berliner Musikfest wurde mit fünf gegensätzlichen Konzerten eröffnet: Hauptwerken von Wolfgang Rihm und Luigi Nono stand ein Unterhaltungskonzert mit Simon Rattle gegenüber.

Von Julia Spinola

Stärker als in jeder anderen Kunstform klaffen in der Musik zwei konträre Seiten auseinander. Da ist zum einen ihre geradezu körperliche Unmittelbarkeit, die über Rhythmus, Harmonie oder Melodik ohne Umschweife in unser Innerstes vordringt, uns gleichsam direkt an der Triebbasis trifft. Am entgegengesetzten Pol entführen uns ihre mathematisch organisierten, gänzlich immateriellen Strukturen in ein esoterisch-abgehobenes Geistesreich. Winrich Hopp, künstlerischer Leiter des Musikfests Berlin seit 2006, möchte mit dem diesjährigen Programm auf die Wirkungsmacht der Musik zielen. "Tobende Ordnung" lautet das Motto der knapp dreißig Veranstaltungen, die bis zum 20. September die Berliner Saison mit einem Großaufgebot von Orchestern und Ensembles einläuten, darunter auch die drei großen Münchner Klangkörper.

Wolfgang Rihm bietet dem Publikum Schlagzeugexzesse und Tam-Tam-Gewitter

Das Motto entstammt einem Zitat des französischen Dichters Antonin Artaud und bezieht sich im engeren Sinne auf ein von ihm inspiriertes Werk des jungen Wolfgang Rihm: auf dessen klangmächtiges poème dansé "Tutuguri", das in einer konzertanten Aufführung zu erleben war. Eine tobende Ordnung waltete jedoch insgesamt in den fünf Konzerten des Eröffnungswochenendes, die Heterogenstes nebeneinander stellten: Musik vom Utopisten Luigi Nono und vom Vitalisten Wolfgang Rihm, Werke des universalistischen Geistesmenschen Ferruccio Busoni und Hollywood-Schnulzen aus den MGM-Filmstudios, die als hohe Kunst der Oberflächlichkeit vom britischen John Wilson Orchestra auf Hochglanz poliert wurden. Und doch entstand aus dieser Buntheit wundersamer Weise mehr als nur ein Flickenteppich.

1982 brach der dreißig Jahre alte Wolfgang Rihm mit seinem brutalistischen "Tutuguri"-Ballett in den Porzellanladen der Spätavantgarde ein. Es waren seine Sehnsucht nach dem Entfesselten, "ganz Anderen", und sein Horror vor allem nahtlos Gefügten gewesen, die ihn zu Artaud geführt hatten, dem Visionär des "Theaters der Grausamkeit". In doppelter Brechung beschwört Rihms Musik jenen Ritus der mexikanischen Tarahurama-Indianer, den Artaud 1936 beobachtet und später literarisch verarbeitet hatte: das im Peyotl- und Mescalinrausch vollzogene Ritual der "schwarzen Sonne", das Eros und Thanatos wild halluzinierend zusammenzwingt. Artaud haben seine Expeditionen schließlich in die Irrenanstalt gebracht. Rihm trieb die düstere Bilderflut der Tutuguri-Verse, die manisch um blutige Pferde, verkohlte Erde, nackte Reiter und eine obskurantistische Kreuzsymbolik kreisen, zu einem schier maßlosen, dezidiert antikommunikativen, antizivilisatorischen, ja geradezu vernichtungssüchtigen Stampfen und Toben. Zwei Stunden lang bewegt sich diese Musik mit ihren Schlagzeugexzessen und Tam-Tam-Gewittern, mit obsessiven Streichpatterns und obszönen Blechbläser-Entladungen am Siedepunkt. Die Musiker des groß besetzten Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks überwältigen die Zuhörer in einer virtuosen Aufführung mit Phonstärken, die man in Berlin sonst eher in Techno-Clubs antrifft. Vier Tam Tams sind in den entlegensten Winkeln der Scharounschen Philharmonie platziert. Aus der Höhe des Saales brechen die über Lautspieler zugespielten Chöre und Sprechchöre auf das Publikum nieder, und wenn nach der Pause das Orchester abtritt, liefern sich auf der Bühne eine halbe Stunde lang sechs Schlagzeuger mit ihren Riesenbatterien ein martialisches Donnerwetter. Der schmale Daniel Harding zerlegt sich als Dirigent dieses klingenden Ungetüms. Mit welcher Exaktheit der rhythmischen und dynamischen Gestaltung er in den Materialmassen waltet, ist bewundernswert. Er bringt den Klang eher in einer vibrierenden Überwachheit zum Gleißen, als dass er sich einer brütenden Feier der Grausamkeiten hingeben würde.

Dennoch: die von Rihm damals beschworene Irrationalität hat ihre durchaus problematische, ja sogar abstoßende Seite. Schon Artauds Mexiko-Kult war mit seiner zivilisationsfeindlichen Vergötterung des guten Wilden von dumpfer Blut-und-Boden-Ideologie nur um eine Haaresbreite entfernt. Und ein Komponistenkollege wie Luigi Nono hat sich schier geekelt vor dieser Ästhetik der Unmittelbarkeit. Die Verteufelung künstlerischer Konstruktionsprinzipien als eine "Fesselung des Ichs" empfand Nono geradezu als eine "Gehässigkeit", die es letztlich auf die "Knebelung des Geistes" abgesehen habe. Tatsächlich ist die Freiheit, die Rihm in diesem Werk für sich proklamiert, in Wahrheit doch ein recht zerbrechliches Ding: Wo man, wie Rihm, direkt darauf losstürmt, droht man sie auch schnell zu verschenken. Das musikalische Ergebnis jedenfalls klingt eher nach einem atavistischen Unterwerfungsritual, nach einem Kollektivzwang, der alle Individualität zu Tode prügelt.

Busoni konferiert am liebsten mit seinen Geistesverwandten Bach und Mozart

Geradezu konträr zu Rihm liegt Nonos eigene Ästhetik, vor allem jene des Spätwerks der achtziger Jahre, zu dem auch das beinahe improvisatorische "La Lontananza nostalgica utopica futura" für Violine und Tonband zählt. Der Geigerin Isabelle Faust und dem Klangregisseur André Richard - einst engster Nono-Mitarbeiter der späten Jahre - gelang eine berückend zarte, lebendige Aufführung. Die Geigerin durchstreift den Raum von Notenpult zu Notenpult und reagiert mit ihrem Spiel auf die vom Band tönenden Alltagsgeräusche und Musikfetzen. Der Ablauf bleibt variabel. Keine Aufführung gleicht der anderen. Wo Rihm den Hörer überwältigt, schickt Nono ihn hörend auf die Wanderschaft, lässt ihn in eine "nostalgische, utopische, zukünftige Ferne" hineinhorchen, wie der Titel heißt, und provoziert in den besten Momenten eine brennende Sehnsucht danach, über die Grenzen der tatsächlichen akustischen Ereignisse hinaus zu lauschen. Auch hier ist die Freiheit ein fragiles Gut, das schlimmstenfalls in eine idiosynkratische Beliebigkeit kippen kann. Das Werk bleibt ein utopischer Fluchtpunkt.

In den Versuchen, das Unwillkürliche zu artikulieren, einer Ahnung Sprache zu verleihen oder einer impulshaften Plötzlichkeit dauerhafte Form, hat jede Kunst ihr utopisches Moment. Es ist wie mit dem Traum, der einem zerrinnt, sobald man sich an ihn erinnert: Im Zuge der Erzählung verfälscht man ihn schon, er wird eindeutiger und undeutlicher zugleich. In ähnlichem Sinn notierte Ferruccio Busoni 1906, dass jede musikalische Notation bereits die Transkription eines abstrakten Einfalls sei. In besonderer Schärfe war er sich bewusst, dass zwischen einer flüchtigen Imagination und ihrer werkhaften Gestalt eine grundsätzlich unüberbrückbare Kluft herrscht. Die von ihm in Schriften geforderte Freiheit der Tonkunst realisiert sich als ein riesenhafter musikalischer Dialog über die Jahrhunderte und Stilgrenzen hinweg, den Busoni mit seinen inneren Gefährten und Geistesverwandten, allen voran Mozart und Bach, führte. Das Klavierduo Andreas Grau/Götz Schumacher führte in einem Matineekonzert das gesamte Werk für zwei Klaviere auf: von Improvisationen über ein Chorallied von Bach über Mozartbearbeitungen bis hin zur hypertrophen "Fantasia contrappuntistica", in der Busoni Bachs unvollendete "Kunst der Fuge" weiterschreibt. So traumversunken planvoll wuchernd spielten die fabelhaften Pianisten diese Werke, dass man für eine Stunde tatsächlich glaubte, hier und nirgendwo anders (außer vielleicht bei Bach selbst) sei sie erreicht worden die musikalische Freiheit, in dieser scheinbar völligen Unabhängigkeit der einzelnen Stimmen, im mal glockenrein perlenden, mal auratisch vergoldeten Klange.

Der große Saal der Philharmonie aber war an diesem Wochenende der plakativen Wirkungsmacht vorbehalten, gipfelnd in der perfektionierten, aber durch und durch sterilen und auch sehr biederen Unterhaltungsmusik, die das von Simon Rattle eingeladene John Wilson Orchestra zum Besten gab. Bei der Zugabe setzte sich Rattle selbst an die Pauken und gab dem Orchester damit den Adelsschlag. Das Publikum tobte. Vielleicht braucht eine grobe Zeit einfach grobe Reize.

© SZ vom 06.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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