Klassik:Der Zufall macht die Musik

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Ein "Johoha" zum Höhepunkt: Ein Münchner Festival widmet sich dem frühen Schaffen des Komponisten Karlheinz Stockhausen. Und es klingt an, dass der Avantgardist über reichlich Humor verfügte.

Von Michael Stallknecht

Wie zwei Duellanten sitzen sich der Pianist Pierre-Laurent Aimard und der Schlagzeuger Dirk Rothbrust auf der Bühne des Münchner Herkulessaals gegenüber, während rund um den Zuschauerraum wilde, elektronisch erzeugte Geräusche sausen. Bis beide Musiker irgendwann aufstehen, um sich an den riesigen Gongs in der Mitte der Bühne zu treffen, sie mit mächtigen Schlegeln traktieren und mit kleinen Stäbchen streicheln. "Kontakte" heißt das Stück von Karlheinz Stockhausen, das optisch wie akustisch fast schon wehmütig an den Glanz der alten Avantgarde erinnert, an Zeiten, als zeitgenössische Musik gesellschaftlich so bedeutend war, dass Uraufführungen zum Skandal gerieten.

Fünf Tage lang hat sich die Reihe Musica Viva einer kleinen Auswahl aus den ersten zwei Jahrzehnten von Stockhausens ebenso umfangreichem wie in sich heterogenem Schaffen gewidmet. Die erlaubt einige interessante Schlaglichter auf Stockhausens Entwicklung. Melodie, Harmonik und Rhythmus schienen nach 1945 verbraucht und ideologisch desavouiert zu sein, es galt, neue Prinzipien zur Organisation von Musik zu entwickeln.

Fast schon pulverisiert erscheint die Musik in den elf Klavierstücken, die der 1928 geborene und 2007 gestorbene Komponist in den Fünfzigern schrieb. Vor allem in den ersten vier ist der Einzelton die einzige noch mögliche Einheit. Erst in der späteren Folge der Klavierstücke finden sich die einzelnen Töne zu Gruppen zusammen, lassen sich die Gestalten sinnlicher erfassen. Der Pianist Pierre-Laurent Aimard verstärkt den Eindruck des Hermetischen, da er die dynamischen Unterschiede kaum ausreizt. Allerdings leistet dieser Pianist, der mit Stockhausen häufig zusammenarbeitete, an diesen fünf Tagen Ungeheures, nicht nur an technischer Perfektion. Das "Klavierstück XI" bekommt man zweimal am gleichen Abend zu hören. Stockhausen, inspiriert von John Cage, erprobt hier das Avantgarde-Prinzip Zufall. Absichtslos soll der Pianist seine Augen über ein Notenblatt mit 19 Fragmenten schweifen lassen. Ein ähnliches Zufallsmoment findet sich in "Zyklus" (1959), der ersten Komposition für Schlagzeug solo. Der Schlagzeuger darf das in Kreisform organisierte Stück an einer beliebigen Stelle beginnen. Und Dirk Rothbrust tut das so körperlich, dass ein gestischer Habitus entsteht. Musik verwandelt sich in Szene.

Solche Momente gibt es reichlich in "Mantra" für zwei Klaviere, das Stockhausen 1970 während der Weltausstellung in Japan komponierte. Eineinhalb Stunden dürfen Aimard und Tamara Stefanovich nicht nur allerlei Schlagwerk neben dem Klavier bedienen, sie manipulieren die eigenen Töne auch elektronisch. Fast schon aggressiv verhakeln sich die Imitationen ineinander, bevor die Pianisten auf dem Höhepunkt vom Klavierhocker springen und "Johoha" rufen. Wie ernst der humorbegabte Stockhausen das meint, sollte man gar nicht erst zu entschlüsseln versuchen.

Eine interessante Erfahrung dieses Festivals ist, dass man ein und dasselbe Stück in der einen Minute höchst sonderbar und in der nächsten enorm ergreifend finden kann. Zeit genug hat man angesichts von Stockhausens Längen, die der avantgardeüblichen Tendenz zur Kürze nie gefolgt sind. Stattdessen erheben sie zunehmend einen Totalitätsanspruch, der eine ganze Welt in sich zu umfassen versucht. Viel davon spürt man schon in den "Hymnen", die das Festival in zwei unterschiedlichen Versionen präsentiert: einmal mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Péter Eötvös, dann als rein elektro-akustische Installation im Late-Night-Programm. Beiden Fassungen merkt man noch immer den Aufbruch an, den die neuen Möglichkeiten der Elektronik in den Sechzigern bedeuteten. Einhundert Nationalhymnen hat Stockhausen analysiert, um sie zu einer ganz eigenen Klangwelt zu verschmelzen. Darin steckt einerseits die Vision einer harmonisch geeinten Völkerfamilie, andererseits aber auch ein gewaltiger Kramladen aus Geräuschen, Sprachfetzen und Musikfragmenten.

© SZ vom 28.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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