Klassik:Das ist sehr sadistisch

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(Foto: Anton Zavjyalov)

Er spielt Beethoven und Strawinsky, nebenbei entwirft er Schuhe und Parfums. Theodor Currentzis gilt als Ausnahme unter den Dirigenten und reist mit eigenem Ensemble.

Von Reinhard J. Brembeck

Die ganz große Überraschung ist, dass die riesige Münchner Gasteig-Philharmonie vor erwartungsgespannten Zuhörern geradezu überlaufen wird. Das passiert nur selten und ist umso überraschender, als da ein noch nicht völlig etablierter Dirigent und zudem mit seinem eigenen Ensemble auftritt. Klar, Teodor Currentzis war schon bei den hiesigen Philharmonikern zu Gast, vor allem seine Aufnahmen von Igor Strawinkys "Sacre du printemps" sowie von Wolfgang Amadeus Mozarts Opern und Requiem haben international ausnehmend viel Beachtung gefunden. Zudem steht auf dem Programm Altbekanntes: Currentzis dirigiert mit stürmischer Verve und vielen unkonventionellen Ideen, beides ist sein Markenzeichen, Ludwig van Beethovens "Eroica" sowie die frühe g-Moll-Sinfonie und das 4. Geigenkonzert von Mozart.

Aber das alles erklärt weder die erwartungsschwanger gespannte Atmosphäre vor noch die jubelnden Ovationen nach dem Konzert. Da ist noch etwas anderes, schwer Fassbares, geradezu Religiöses. Dieser so unkonventionelle Teodor Currentzis erscheint vielen Klassikfreunden wie ein Messias, ein Erlöser. Nur, wovon soll und will er die Zuhörer denn erlösen?

Das aber wird ganz klar aus der Art, wie er und die ihm wesensverwandte Geigerin Patricia Kopatschinskaja das Violinkonzert von Mozart inszenieren. Sie reizt dabei nicht nur die Kadenz, sondern vor allem die kurzen improvisierten Einschübe aus, die in herkömmlichen Aufführungen als nebensächlich weggespielt werden. Bei Kopatschinskaja werden sie zu hinterfotzigen Kommentaren, das Orchester lässt sich davon hemmungslos anstecken, und Currentzis bremst diesen Übermut allenfalls ein wenig aus. Vielmehr balanciert die Musik aus zwischen Strenge und Vitalität, zwischen erhabenem Monument und vitalem Musikantentum. So befreit Currentzis die ernste Musik von ihrem Ernst. Bei ihm wird weniger eine vorgefertigte Interpretationsidee realisiert, sondern die Musik in eine kommunikative Improvisation verwandelt, die dem Klassikbetrieb eine so sonst unbekannte Lebendigkeit und Aktualität zurückgibt. Was sowohl den enormen Erfolg dieses Teodor Currentzis bei Publikum wie Intendanten erklärt wie auch die ablehnende Haltung gestrenger Kunstmusikrichter.

Zu all dem passt das Erscheinungsbild dieses Dirigenten, der konsequent auf Überraschungen geeicht ist. Da steht in eng anliegendem Schwarz ein großer, schlaksiger Mann mit modischer Frisur, der ohne Taktstock und mit suggestiver Körpersprache Musiker wie Publikum in seinen Bann zieht. Currentzis ähnelt einem tanzendem Derwisch, dessen existenzielle Botschaften weit von bloßer Unterhaltung entfernt sind. Kein Wunder, dass im ernsten Deutschland dieses Auftreten den Verdacht unseriöser Popvermarktung wachruft.

Currentzis entwirft auch Schuhe. Und Gerüche. Und vielleicht, sagt er, wird er ins Kloster gehen

Dem Auftreten entsprechend verlief auch Currentzis' Karriere ungewöhnlich. Vor 45 Jahren in Athen geboren, ist er zum Studium nach Russland gegangen - und dort geblieben, erst als Musikchef der Oper Nowosibirsk, seit sechs Jahren in gleicher Position in Perm.

Dort hat er sich mit "MusicAeterna" ein eigenes Ensemble (das ist grandios) und einen eigenen Chor (der ist noch grandioser) aufgebaut, die alles von Henry Purcell bis hin zu Helmut Lachenmann aufführen, auf Instrumenten und mit Spieltechniken der jeweiligen Zeit. Currentzis schafft so die Synthese aus östlicher und westlicher Musiktradition. Aber auch die aus Pierre Boulez und Nikolaus Harnoncourt, aus analytischer Avantgarde und historischer Aufführungspraxis. Indem er das Erbe der beiden wichtigsten Musiker der letzten Jahrzehnte zusammenbringt, ist Currentzis zum interessantesten unter den jüngeren Dirigenten geworden. Kein Wunder, dass er im Sommer die erstmals von Markus Hinterhäuser ausgerichteten Salzburger Festspiele eröffnen wird, mit Requiem und "Tito" jenes Komponisten, der ein zentraler Bezugspunkt seines Denkens ist: Mozart.

Am Tag nach dem Konzert präsentiert er sich beim Interview anfangs als versonnener Musikphilosoph: "Ich bin formal ein Dirigent, aber vor allem bin ich ein Musikliebhaber. Wenn ich etwas mache, nehme ich mich als Publikum, nicht als Aufführenden. Denn ich glaube, dass die Zukunft der Musik im Publikum liegt und nicht im Aufführenden." Weshalb er daheim in Perm ständig Publikum um sich hat. Von der ersten Probe an sitzen die Menschen im Theater und verfolgen mit, wie eine Opernaufführung entsteht. Damit sie das auch können, beginnen die bis zu acht Stunden langen Proben nach den normalen Arbeitszeiten. Currentzis vergleicht diesen Prozess mit einer Schwangerschaft.

Besonders stolz ist er auf sein "Laboratorium des zeitgenössischen Hörers". Komponisten erarbeiten mit Laien extra für sie und ihre Möglichkeiten komponierte Stücke: "Damit hat schlagartig die Diskussion über neue Musik aufgehört." Wenn er wie jetzt Luciano Berio oder den von ihm besonders geschätzten Sergej Newski aufs Programm setzt, dann ist der Saal ausverkauft. "Das ist Lernen mit den Menschen", sagt er, "wir alle sind Studenten."

"Ich komponiere eine sehr sanfte, fast stille Gedankenmusik."

Aber Currentzis dirigiert nicht nur. "Wenn ich komponiere, bin ich befreit. Ich schreibe auch Bücher, ich kreiere Schuhe, Gerüche, Underground-Filme. Dirigieren ist mein Hobby." Und dann lacht er sein unwiderstehliches, weil impulsiv herauskicherndes Lachen. Aber gleich wird er wieder spirituell: "Ich denke ernsthaft darüber nach, in ein Kloster zu gehen. Ich will kein Dirigent sein. Es lohnt sich, das gut zu machen, ich habe eine Mission. Dirigieren ist eine Sache des Lebens. So ernst, wie wenn man jemanden heiratet. Wenn ich nicht das Gefühl habe, das etwas spirituell für mich wichtig ist, dann ist es besser für mich, es nicht zu machen."

Currentzis ist ein Mensch der Widersprüche - oder der Synthese? Seine Entscheidung, nach Russland zu gehen, war kalkuliert. "Russland ist ein magischer Ort, ein Märchen. Das Wichtigste dort ist der emotionale Weg des Lebens. Die Logik ist etwas offener in Russland, da gibt es nicht diese bescheuerte Logik, die in Europa existiert. Sie sind weniger diszipliniert, und das ist etwas Gutes." Europa bedeutet für ihn Aristoteles: Logik, Wissen. Der Osten aber Plato, wozu er Emotionalität, Offenheit, Religion und etwas weniger Disziplin rechnet. Und Currentzis bringt als Mediator das Beste beider Richtungen zusammen. Diese Synthese hat er immer gesucht, und jetzt kann er über seine Truppe "MusicAeterna" sagen: "Wir sind das westlich-östlichste Orchester der Welt."

Seine Musikauffassung wird explizit deutlich, wenn er über seine Aufnahme des Mozart-Requiems spricht: "Meine Absicht war, es nicht schön zu musizieren, um es asketisch und spirituell zu machen." Asketisch und spirituell: Das sind auch die Begriffe, die sich im Konzert beim Trauermarsch aus Beethovens "Eroica" aufdrängen, der von allen Sätzen am besten gelingt. Weil aufwühlend, verstörend und nicht nur aufgeputschter Aufruhr.

Deshalb ist es auch nicht weiter erstaunlich, wie Currentzis seine eigenen Kompositionen charakterisiert, die er entrückt lächelnd als "die besten der Welt" bezeichnet: "Es ist sehr seltsam, aber ich komponiere eine sehr sanfte, fast stille Musik. Es ist Gedankenmusik." Weshalb er auch Komponisten liebt, die "ihre Dimension in unsere Dimension übersetzen und uns dadurch befreien. So wie Giacinto Scelsi. Er ist ein Genie, aber nicht wirklich ein Komponist." Zu dieser Kategorie rechnet er auch Morton Feldman und Nikos Skalkottas. Aber dann taucht Currentzis unvermittelt aus seiner spirituellen Jenseitsweltschau auf und erklärt lachend: "Wenn ich Musik machen könnte, ohne vor dem Publikum zu erscheinen, wäre es das Beste. Ich bin agoraphobisch und allergisch gegen die Kälte. In Russland zu leben und Dirigent zu sein: Das ist sehr sadistisch."

© SZ vom 17.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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