Japanische Literatur:Wenn ein Kaiser ein Hündchen verbannt

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Erstmals vollständig übersetzt: Das "Kopfkissenbuch", eines der bedeutendsten Werke des japanischen Mittelalters, in einer wunderbaren deutschen Ausgabe.

Von Burkhard Müller

Bei Hof besteht kein Mangel an Festen. Feierlich geht es dabei zu, aber fröhlich doch auch. Wenn zum Beispiel bei der Präsentation des Aouma-Schimmels die Adligen ihre Wagen schmuck herrichten und dabei über die Schwelle des mittleren Palasttores mit Namen Taikenmon fahren müssen, dann rumpelt es drinnen so heftig, dass die Insassen mit den Köpfen zusammenstoßen und den Damen die Steckkämme aus dem Haar zu Boden fallen. "Das Gelächter dabei, welch ein Spaß!"

Hier hat man gleich am Anfang des "Kopfkissenbuchs", des wichtigsten Werks aus dem japanischen Mittelalter, beides: die Merkwürdigkeit, ja Unverständlichkeit der Bräuche; und die Lebendigkeit, mit denen die Vorgänge dennoch vor Augen treten. Was es mit dem Aouma-Schimmel auf sich hat, muss man sich allerdings erst erklären lassen: einen solchen schenkten die Hofrang-Inhaber jedes Jahr am Tag der Beförderungen dem Kaiser.

Dass beides, das sogleich menschlich Einleuchtende und das Befremdliche einer in Raum und Zeit so fernen Kultur wie die des japanischen Kaiserhofs vor tausend Jahren, sich zu einem so lustbringenden Erlebnis verschränkt, verdanken Buch und Leser der Vermittlung von Michael Stein; seine Verdienste bei der Eroberung dieses Werks für eine deutsche Leserschaft kann man nicht hoch genug loben.

Nicht nur die Übersetzung hat er besorgt - die erste vollständige des im Deutschen bisher nur gekürzt vorliegenden Buches -, sondern durch eine Fülle von Kommentaren, ein Nachwort, ein Glossar und ein Personenverzeichnis erschlossen, was sonst verborgen bliebe wie die Gesichter der Palastdamen, die sich hinter ihre Fächer und Wandschirme zurückziehen und bis zu zehn Schichten Kleidung tragen.

Ganz einfach freilich wird es dem Leser nie. Bei den ungefähr vierzig Trägern des Namens Fujiwara, die das Personenverzeichnis bietet, sieht er es schließlich ein, dass man sie nicht wirklich alle auseinanderhalten muss; aber das Buch jeweils um 90 Grad zu drehen, um an die fast tausend quer gedruckten und stets unentbehrlichen Anmerkungen heranzukommen, darf er sich nicht ersparen. Das Bild der aufgeschlagenen Doppelseite wird so zu einer kalligrafisch belebten Größe, immer in der Fußnotenzone mit einer Blüte versehen und einem Stichwort geschmückt, Abbreviatur des je besprochenen Themas, "Katzenohren" zum Beispiel, oder "Arznei-Mädchen" oder "Gören".

Der scheinbar frische und spontane Ton liefert ein Sittenbild, fein austariert wie ein Mobile

Über letztere weiß Sei Shōnagon, die Verfasserin, Folgendes zu sagen: "Mütter, die ihren Kindern diese Sachen (die sie sich bei Besuchen einfach holen) nicht abnehmen und in Sicherheit bringen, sondern nur Floskeln sagen wie 'Hör auf damit', 'So etwas tut man nicht' oder 'Mach das nicht kaputt', und dabei auch noch freundlich lächeln, finde ich genauso unausstehlich wie ihre Gören. Schließlich kann ich fremde Kinder nicht vor ihren Müttern zurechtweisen und bin gezwungen, das alles voller Ingrimm mitanzusehen."

Sei Shônagon: Kopfkissenbuch. Erstmals vollständig aus dem Japanischen übersetzt und herausgegeben von Michael Stein. Manesse Verlag, Zürich 2015. 384 Seiten, 59,95 Euro. E-Book 19,99 Euro. (Foto: verlag)

Was "Gören" wohl auf Japanisch heißt? Stein war hier unerschrocken und hat das Alte und Fremde wirkungsvoll in ein neuzeitliches Idiom gewendet: Die Situation kommt einem trotz kultureller Alterität nicht ganz unbekannt vor. Sei Shōnagon hält mit ihren Gefühlen in solchen Fällen nicht hinterm Berg. Systematisch stellt sie zusammen, "Was würdelos aussieht", "Was mir zu Herzen geht", "Was zum Schämen Anlass gibt" (an erster Stelle natürlich "der Sinn der Männer"). Auf den ersten Blick mag das aussehen wie eine Ansammlung von Launen; aber es steckt darin eine Art japanischer Knigge. Die bloße Subjektivität hat in dieser Umgebung, wo alles Individuelle hinter einer maskenhaft weißen Schminke verschwindet (die Zähne werden sorgsam geschwärzt) und es je nach Rang vier verschiedene Formen der Anrede gibt, nichts zu suchen.

Der scheinbar frische und spontane Ton liefert ein Sittenbild, fein austariert wie ein Mobile, das beim kleinsten Luftzug zu schwingen beginnt, aber immer in denselben Gelenken verankert ruht. Und so ziehen, sensibel und unbarmherzig, die langen Listen dessen vorüber, was der Autorin "elegant" oder "enttäuschend" vorkommt, "peinlich", "liebreizend" oder "unausstehlich". Unausstehlich sind die Flöhe, die unter den Gewändern so wild herumhüpfen, dass es fast den Stoff hochhebt, und mit Staunen nimmt der Leser die Tatsache zur Kenntnis, dass keines dieser Luxusgeschöpfe jemals sich oder seine kostbaren Kleider wäscht, allein das mehr als körperlange Haar ausgenommen.

Zu einer solch höfischen Gesellschaft gehört unausweichlich die Arroganz gegen alle Volksschichten außerhalb und unterhalb ihrer selbst, ja mehr als das: deren völliges Ignorieren. Wenn man einen kleinen Ausflug über Land macht, sieht man da befremdliche Figuren, die in einem überschwemmten Feld gebückt rückwärts gehen. ",Was treiben die da bloß? Es sieht so komisch aus!', dachte ich bei mir, und was sie sangen, klang so, als wollten sie die Nachtigall verhöhnen, wie herzlos kam mir das vor!" Kann es sein, dass Sei Shōnagon keine Ahnung hat von der Praxis des Reisanbaus, von dem das ganze Land lebt? Für nichts Schlimmeres landete Marie Antoinette unter der Guillotine. Dazu kommt es in Japan nie. Nicht als ob seine Geschichte frei wäre von politischer Gewalt. Aber die Achtung vor dem Überkommenen ist immer stärker als sie. Schon damals, vor tausend Jahren, war der Kaiser faktisch von einem "Regenten" entmachtet. Die einzige kaiserliche Entscheidung, von dem wir im Buch erfahren, betrifft die Verbannung eines Hündchens aus dem Palast - und selbst die wird rückgängig gemacht.

Japan empfindet diese lange, friedliche Zeit, die sogenannte Heian-Periode, die vom 8. bis zum 12. Jahrhundert dauerte, bis heute als seine goldene Ära (während die viel später auftretenden Samurai und Shogune nur Anspruch auf das silberne Zeitalter machen dürfen). Viel präsenter ist sie dort als uns unser eigenes Mittelalter, diese selbst bei bestem Willen graue Vorzeit. Besonders betrifft das die Geltung der bis heute hochgeschätzten Lyrik. Niemand darf hoffen, gute Figur und Karriere am Hof zu machen, der nicht auf entsprechende Aufforderung in kurzer Zeit ein Gedicht zu produzieren vermag; am besten wandelt er ein schon vorhandenes geistreich ab, denn so beweist er nicht nur sein poetisches Talent, sondern auch seine Kenntnis der Tradition, die damals schon ebenso steinalt ist, wie sie sich offenbar in Japan bis heute jung erhalten hat.

Für einen Europäer ist es ganz unmöglich, den Wert dieser Gebilde zu beurteilen; an nichts als dem Beifall der Hofgesellschaft vermag er zu ermessen, was hier gelungen ist. "Eifrig gepflückt, doch leider völlig vergebens... / Das arme Mimina-Kraut! / Auch Chrysanthemen sind / unter den vielen Kräutern!" Damit wüssten wir ja nun gar nichts anzufangen. Sehr wohl aber die Verfasserin, die gleich daneben setzt: "Eifrig gepflückt, doch leider / von Kräutern keine Ahnung, / die armen Kinder. / Auch eines, das sich auskennt, / ist unter den vielen Kindern", lautet ihre Version, die sich, wie die Anmerkung erklärt, geistesgegenwärtig auf die Homonymie von japanisch "kiku" als "Chrysantheme" und "Bescheid wissen" stützt - "aber das hätten die Kinder sicher nicht verstanden."

Schadenfreude ist im Buddhismus eine Sünde, wie auch Sei Shōnagon sehr wohl weiß. Trotzdem gönnt sie sich hin und wieder solche kleinen Bosheiten. Wer war diese Frau? Wir erfahren von ihr viel mehr als von irgendeiner ihrer europäischen Zeit- und Geschlechtsgenossinnen, und trotzdem noch viel zu wenig. Auch für sie, wie schon für ihren Vater, der sie fördert und zärtlich liebt, wird die Lyrik zum Ticket des sozialen Aufstiegs. So schafft sie es in die Gesellschaft der Kaiserin, für deren Freundschaft sie tiefe Dankbarkeit hegt (und mit der zusammen sie offenbar schließlich in Ungnade fällt). Mit dreißig fühlt sie sich alt und muss eine Perücke tragen, eine Schande in dieser Welt von Haarfetischisten. Sie amtet als Instanz des guten Geschmacks, hell, wachsam, witzig, eine Aufgabe, die sie mit solcher Intelligenz und Sensibilität nur erfüllen kann, weil sie sich ihrer Stellung niemals sicher ist.

Das titelgebende Kopfkissen ist hier kein Kuschelkissen, sondern eine harte Nackenstütze

Den Titel "Kopfkissenbuch" sollte man demnach nicht so verstehen, als vertraute hier ein Teenager seinem Tagebuch Geheimnisse an. Michael Stein macht es wahrscheinlich, dass hier wieder einmal ein unübersetzbares Wortspiel der Autorin vorliegt. "Kopfkissenbuch" ist trotzdem kein schlechter Titel; immer vorausgesetzt, man stellt sich darunter kein modernes Kuschelkissen vor, sondern die damals übliche hölzerne Nackenstütze, welche die komplizierte Frisur auf Kosten der Nachtruhe schützt.

Es ist ein wunderbares Buch geworden: eines, das schon äußerlich mit seinem blühenden Pflaumenzweig auf goldenem Grund und seinem quadratischen Format, dazu sacht wattiert wie das Wintergewand einer Hofdame, so japanisch-kostbar anmutet, dass man mit Genuss eintaucht in ein Stück Weltliteratur und Weltkultur, das man bislang nicht kannte.

© SZ vom 02.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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