Jamaikanische Literatur:Was die Toten reden

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In seinem mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman "Eine kurze Geschichte von sieben Morden" erzählt Marlon James eine Geschichte, die nicht kurz ist, sondern eher zu lang. Und sie handelt auch nicht von sieben Morden. Sondern von deutlich mehr.

Von Nico Bleutge

Die Lebenden hören nicht zu. Und die Vergangenheit interessiert sie nur wenig. Die Toten aber sind immer nah bei den Lebenden, manchmal können sie sogar in die Lebenden hineinschlüpfen. Zugleich reden sie und erinnern sich die ganze Zeit. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass der jamaikanische Autor Marlon James, geboren 1970 in Kingston, gleich zu Beginn seines Romans einen Toten sprechen lässt, einen ehemaligen Politiker, der ein Opfer halb-krimineller Machenschaften geworden ist. Dieser Tote ist so etwas wie der Duppy, der böse Geist des Buches, der sich in beinahe jedem Großkapitel zeigt.

Aber auch die bösen Geister haben ihre guten Seiten. Es gehört zu der ganz eigenen Ironie des Buches, dass ausgerechnet der korrupte Ex-Politiker die Erinnerung an die Vergangenheit wachhält - und ein ums andere Mal von den Toten erzählt. Diese Toten haben es Marlon James so sehr angetan, dass der Titel seines mit dem Man-Booker-Prize ausgezeichneten Romans, "Eine kurze Geschichte von sieben Morden", fast schon zynisch klingt. Weder ist seine Geschichte kurz, noch handelt sie von sieben Morden. Ganz im Gegenteil, Marlon James schickt so viele tatsächliche und zukünftige Tote durch seine ausufernden Kapitel, zeigt Teile ihrer Leben, lässt sie bisweilen selbst erzählen - bis man am Ende gar nicht mehr weiß, sind es ein paar Dutzend oder gar jene "zwei, drei, hundert, achthundert und neunundachtzig", von denen einmal die Rede ist.

Dabei wühlt der Roman in einer Mischung aus realen Details und Erfindungen die Welt der Lebendigen gehörig auf. An seiner Oberfläche erzählt er von jenem Attentat auf Bob Marley im Jahr 1976, bei dem "der Sänger", wie er hier genannt wird, nur knapp dem Tod entgeht. Eine Gruppe Männer mit M 16-Gewehren stürmt sein Haus in Kingston, und die Kugel verfehlt bloß deshalb sein Herz, weil er im Augenblick des Schusses aus- und nicht einatmet. So will es die Legende.

Unter dieser Erzählung aber pulsiert ein ganzes Geflecht von anderen Geschichten, die tief hineinführen in die politische Landschaft Jamaikas. Die Konkurrenz zwischen zwei Parteien und zwei Kartellen. Der Kampf um die Vorherrschaft im Drogenhandel. Dazwischen CIA und DEA und die große amerikanische Angst vor der "Finsternis des Kommunismus". Wie formuliert es ein Journalist: "Chef, hier fliegt uns demnächst die Kalter-Krieg-Scheiße nur so um die Ohren". Und der Sänger sollte sterben, weil er vielleicht wirklich vorhatte, sich für einen Friedenprozess einzusetzen? Wer weiß das schon so genau.

Es ist eine Stärke dieses Romans, dass er sich auf die Suche nach der "einen Wahrheit" gar nicht erst einlässt. Marlon James erlaubt es allen seinen Protagonisten, selber zu sprechen. Aus dem Ensemble von rund achtzig Figuren (ein Tableau zu Beginn des Buches listet sie auf) hat er zwölf ausgewählt, die als Ich-Erzähler über die Seiten führen, darunter Zeitungsmenschen, CIA-Agenten und diverse Gang-Mitglieder. So, wie die Schauplätze in Kingston und später in New York wechseln, ändern sich die Perspektiven auf ein und dasselbe Ereignis, je nachdem, wer gerade spricht. Ihr Zentrum ist eine junge Frau, die im Laufe des Buches vielerlei Identitäten annimmt, sich mal Nina Burgess nennt, mal Kim Clarke, mal Dorcas Palmer. Allerdings erzählen alle Figuren im Präsens, was immer dann ein wenig unbeholfen wirkt, wenn sie erst einmal beschreiben, an welchem Ort sie sind oder was sie gerade tun.

Marlon James hat versucht, diese Vielschichtigkeit der Perspektiven durch unterschiedliche Sprachen zu verstärken. Jargons, Dialekte, Fachsprachen, alles mischt er ein. Wenn hier jemand umgebracht werden soll, heißt es nicht einfach "Töte ihn", sondern "Ich möchte, dass du Wegzaubercreme auf diesen Bruder schmierst." Dazu kommen Flüche wie "Bombocloth" oder "R'aascloth". Leider ist es den fünf Übersetzern nur an wenigen Stellen gelungen, diese vielen Töne ins Deutsche zu holen. Vor allem greifen sie immer wieder zum falschen sprachlichen Register. Ein Gangster, der von seinem "Schniedel" spricht, "Himmelherrgott" sagt und "Ich bin der Doktor Eisenbart" singt, wirkt genauso wenig glaubwürdig wie einer, der beim Sterben "oh jemineh ach" schreit.

Das größte Problem dieses Buches aber hat nichts mit der Übersetzung zu tun, sondern liegt darin, dass seine Stoffe in alle Richtungen wuchern. Auch wenn Marlon James immer wieder mit filmischen Motiven von "Pulp Fiction" bis zu den "Sopranos" kokettiert - er hätte sich besser etwas von den Schnitttechniken abschauen sollen. Lang ist der Roman und zuweilen auch langatmig, durch Exkurse und immer neue Figuren unnötig aufgebläht. Dabei gibt einer der New Yorker Gangster am Ende des Buches doch den bombocloth besten Ratschlag für solche Fälle: "Bleib einfach bei der eigentlichen Geschichte, schweif nicht zu weit ab." Oder in Dorcas Palmers Worten: "Ich mag Reduktion. Etwas auf den Punkt bringen. Eindampfen. Rauskürzen."

© SZ vom 26.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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