Italienische Gedichte:Geckos in einer Sommernacht

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Die Mailänder Autorin Anna Maria Carpi packt den Leser am Schopf, und schon ist er mittendrin in einer Geschichte. Sie weckt die Sehnsucht, zu etwas anderem vorzudringen.

Von MAIKE ALBATH

Anna Maria Carpi packt einen am Schopf und schon steckt man mitten in einer Geschichte: Wie der venezianische Wirt Lino, der immer an der Theke stand, nach Feierabend noch die Böden schrubbte und sich an einem schwülen Sommernachmittag in ein Zimmer über seinem Lokal zum Sterben hinlegt. Oder wie eine Reisende an der Mailänder Stazione Centrale unter lauter Pendlern eintrifft, elektrisiert vom Fauchen der Espressomaschinen in die U-Bahn steigt und an der Wohnungstür von Schwermut ergriffen wird: "Mein Leben/ wie ein Fleck an der Wand."

Die Mailänder Lyrikerin beherrscht die Kunst der Plötzlichkeit, und immer wieder entfaltet sie in ihren gedrängten Versen ganze Romanwelten. "Meine lieben Gedichte,/ so klein und arrogant,/ wie Geckos in einer Sommernacht,/ die Finger ausgebreitet, lauernd auf den Wänden", umreißt sie selbst den Charakter ihrer Texte. Das Blitzschnelle, Reptilienhafte nimmt einen ebenso gefangen, wie ihre Fähigkeit, Alltägliches sublim zu vermitteln und die großen Fragen des Daseins ohne Pathos zu verhandeln. Liebe, Altern und Tod kommen ebenso vor wie Reisen nach Russland, Einkäufe, das Beantworten von E-Mails oder eine Tasse aus Bayreuth auf dem Schreibtisch.

Man hört das elektrisierende Fauchen der Espressomaschinen

Entweder bin ich unsterblich lautet der Titel der von Piero Salabè mit absichtsloser Eleganz übersetzten und klug komponierten Gedichtsammlung, die einen Einblick in das lyrische Werk Carpis vermittelt. In Italien ist Anna Maria Carpi, 1939 in Mailand geboren und viele Jahre Germanistikprofessorin in Venedig, als Übersetzerin von Rilke, Benn, Celan, Heiner Müller und Durs Grünbein bekannt geworden. Neben kenntnisreichen Sachbüchern und Essays zur deutschen Literatur hat sie eine Reihe von Romanen und Erzählungen vorgelegt, die zum Teil auch auf Deutsch erschienen sind. Ihren ersten Lyrikband veröffentlichte sie 1993 mit über fünfzig, seither zählt sie mit Patrizia Cavalli zu den Repräsentantinnen einer erzählerischen Linie, die an Umberto Saba anknüpft und typisch für die italienische Lyrik des späten 20. Jahrhunderts ist. Gleichzeitig kennt sie die hermetisch-abstrakte Tradition und variiert den Schauplatz des Nicht-Ortes, wie ihn Andrea Zanzotto geprägt hat: den Limbus der Zivilisation in Supermärkten, Flughäfen oder U-Bahnen.

Aber auch dort kann das eher skeptisch bilanzierende Ich von etwas Metaphysischem ergriffen werden: Es möchte nach seinem Tod wie ein Spatz, der in das "frostige Weiß des Supermarkts" hineinfliegt, unter den Lebenden bleiben. Die lapidaren Schilderungen werden immer wieder von metaphorischen Vergleichen durchbrochen. Da gibt es "Teppiche des Ewigen" oder das "glühende Gitter des Glücks".

"Die Wüste des Windes" zieht von Zimmer zu Zimmer in einem Haus, das versteigert werden soll. Das jahrtausendealte Schwappen der Boote im Meer an einem "dunklen Schlund Küste" löst Verschmelzungsfantasien aus: Das Ich wäre am liebsten selbst eine dieser Barken. Dass es sich hier in einem unbelebten Gegenstand spiegelt, passt zu der Schwierigkeit, die menschliche Nähe bereitet. Als Ursprung dieses existenziellen Alleinseins taucht in einem der einprägsamsten Texte die Mutter auf: "Hab nie in ihrem Schoß geschlafen./ Sie war ein Zugvogel mit gestutzten Flügeln". Aber es bleibt die Sehnsucht, zu etwas anderem vorzudringen. Schließlich fand auch Kolumbus hinter dem Horizont eine Neue Welt.

Anna Maria Carpi : Entweder bin ich unsterblich. Gedichte. Aus dem Italienischen von Piero Salabè. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein. Carl Hanser Verlag, München 2015. 155 Seiten, 15,90 Euro.

© SZ vom 07.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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