Italien:Und über den Schienen wuchern Brombeeren

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Eine Reise durch das Monferrato, wo sich die Vergänglichkeit an den Schornsteinen aufgelassener Zementfabriken abarbeitet. In dem Dorf Ozzano bildet sich ein Ensemble aus Ruinen. Und am Ende gewinnt immer die Natur.

Von Thomas Steinfeld

Manchmal, bei schönem Wetter, sieht das Monferrato aus wie ein riesiges Lummerland, mannigfach vervielfältigt und aus der Fantasie in die Wirklichkeit übertragen. Unzählige, oft steile Hügel gibt es in dieser Landschaft zwischen Alessandria im Osten und Asti im Westen, zwischen Vercelli im Norden und dem Kamm des Apennin im Süden. Auf beinahe jedem dieser Hügel steht ein Dorf, und auf dem höchsten Punkt des Dorfes befindet sich eine Burg, eine herrschaftliche Villa oder eine barocke Kirche, und manchmal gibt es dort alle drei Einrichtungen zugleich.

Das Meer, das Lummerland umschließt, fehlt hier allerdings. Anstelle des Wassers erstrecken sich zwischen den Hügeln sanfte Hänge, auf denen Wein angebaut wird, und es ist nicht der schlechteste. Und die Bahnlinien? Sie scheinen mehr oder minder stillgelegt zu sein, aber man sieht noch die Trassen, von Brombeeren und anderem Gestrüpp überwuchert. Das Dorf Ozzano ist das Muster einer Siedlung im Monferrato. Knapp 1500 Menschen leben hier, die eine Hälfte unten im Tal, die andere Hälfte oben auf dem Hügel, unter einer Kirche aus dem 17. Jahrhundert und unter einer Burg, die viele hundert Jahre zuvor errichtet und dann irgendwann zu einer Villa umgebaut wurde. Vom Belvedere, knapp unterhalb der Burg gelegen, sieht man weit ins Land, und überall bietet sich das gleiche Bild von Hügel, Burg und Kirche. Dann aber geht der Blick hinunter ins das Dorf im Tal: Man erkennt die alte Bahnlinie, von Gestrüpp und kleinen Bäumen überwachsen.

Daneben aber stehen, über Kilometer hinweg, die Ruinen gewaltiger Fabriken, mit Hallen so hoch wie die kleineren Hügel und Schornsteinen, die fast hinaufzuragen scheinen bis zu Burg und Kirche. Die Fenster und Tore sind ausgeschlagen, die Mauern teilweise eingefallen, aber der Beton hält stand. Und keine der Burgen kann es an Monstrosität, ja sogar: an Ruinenhaftigkeit, mit diesen Fabriken aufnehmen.

Die Hügel des Monferrato bestehen aus einem weichen, gelblichen Kalkstein, der immer schon das Baumaterial der Gegend abgegeben hatte. Als im frühen 19. Jahrhundert die Herstellung von Zement neu erfunden worden war, erwies sich dieses Material als besonders tauglich für die Herstellung von Portland-Zement, und Ozzano Monferrato wurde zum Zentrum für die Herstellung dieses Baumaterials in Italien. Doch wurde der besondere Rohstoff im selben Maße, wie man nicht mehr Kalkstein aus Hügeln brechen musste, um Zement zu erzeugen, zu einer überflüssigen Angelegenheit: Was im Tal von Ozzano steht, sind Fabriken, die in den Sechzigern aufgegeben wurden. Auf den Gedanken, diese Anlagen abzureißen, kam offenbar niemand. Und so verschmelzen die Hallen und Schornsteine, die rostenden Tore und die überwachsenden Eisenbahntrassen allmählich mit den Burgen, Villen und Kirchen zu einem historischen Ensemble.

Schon hat sich in Ozzano Monferrato ein Verein zur Bewahrung des industriegeschichtlichen Erbes gebildet, unter besonderer Berücksichtigung von älteren Typen des Zements sowie von selten gewordenen Verbundtechniken: Zement und Naturstein, Zement und Ziegel. Schon werden Führungen angeboten, in die Frühzeit des Portland-Zements. Diesen Dingen gilt nun eine eigene Archäologie. Und vielleicht dauert es nur noch ein paar Jahre, vielleicht nur noch eine Generation, bis die Unterschiede tatsächlich verschwunden sind: Dann wird alles, was alt und nutzlos geworden ist, nur noch alt sein, und die Jahre dazwischen werden keine Rolle mehr spielen.

© SZ vom 23.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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