IS-Terror:Vandalismus als Waffe

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Ein Blick, den es nicht mehr gibt: Der Baal Schamin Tempel in Palmyra war berühmt für seine apsisförmige Säulenstellung im Innern. (Foto: Reuters)

Solidarität mit Bauwerken scheint einfacher zu sein als die mit Menschen: Die Zerstörungen des IS konfrontieren uns mit unangenehmen Fragen und Erinnerungen.

Von Stefan Weidner

Wer, wie der Autor dieser Zeilen, ein manischer Besucher archäologischer Stätten ist, wird angesichts der Zerstörung des architektonischen Erbes in Syrien und Irak nur Trauer, Abscheu und Unverständnis empfinden. Aber haben die wiederkehrenden Berichte über den Vandalismus des IS nicht trotzdem einen merkwürdigen Beigeschmack? Es fällt unangenehm auf, dass Propaganda und Gegenpropaganda bei der Berichterstattung oft ineinandergreifen und zu Komplizen werden: Meist sind es vom IS selbst angefertigte Bilder und Filme, die die westlichen Medien verbreiten. So wird mit denselben Bildern und Nachrichten Stimmung für und zugleich gegen den IS gemacht, je nachdem wer sie sendet oder rezipiert. Da die Gefährdung archäologischer Stätten, selbst solcher, die als Weltkulturerbe gelten, anderswo - sagen wir in Pakistan - praktisch keinen Nachrichtenwert haben, scheint es, als würden die Präferenzen unserer Medien den Vorgaben der Propagandaabteilungen des IS folgen.

Das plötzliche Interesse am architektonischen Erbe des Nahen Ostens, nur weil und wenn sie vom IS zerstört werden, konfrontiert uns mit unangenehmen Fragen. Die erste hängt direkt mit der dadurch geweckten Empörung selbst zusammen. Sie geht ins Leere, lässt sich in keine entlastende Reaktion ummünzen. Niemand käme auf die Idee, zur Rettung von Kunstwerken Soldaten in den Irak schicken; schon ein Drohneneinsatz ist den Strategen dafür vermutlich zu schade. Wir bekommen mit diesen Bildern also vor allem unsere eigene Machtlosigkeit vorgeführt, und damit hat der IS eines seiner wichtigen Propagandaziele bereits erreicht.

Das westliche Interesse an nahöstlichen Trümmern war zu keinem Zeitpunkt unschuldig

Der zweite kritische Punkt ist die Priorität, die solche Meldungen gegenüber den menschlichen Opfern des Krieges bekommen haben. Dass das syrische Regime Fassbomben über den Wohngebieten der eigenen Bevölkerung niederregnen lässt - Angriffe, die militärisch ebenso sinnlos sind wie die Zerstörung von Altertümern -, ist keine Neuigkeit mehr, da es diese Angriffe täglich gibt. Als am Sonntag das arabische Programm von Al-Jazeera wieder einmal gezeigt hat, wie ein Kleinkind aus den Betontrümmern eines derart zerstörten Hauses gezogen wurde, konnte selbst ich nicht mehr hinsehen. Vor diesem Hintergrund nehmen die zerstörten Altertümer eine metaphorische Qualität an: In ihrer Unschuld und Wehrlosigkeit stehen sie stellvertretend auch für die menschlichen Opfer, deren täglicher Anblick uns naturgemäß überfordert. Freilich ist Solidarität mit Bauwerken, so absurd es klingt, auch einfacher als die mit Menschen; ihre Unschuld muss nicht erwiesen werden.

Wenn die Bauwerke zu Metaphern für die menschlichen Opfer werden können, können sie auch Metaphern für etwas anderes darstellen. Und tatsächlich ist dies der Hauptgrund, weswegen sie zu Zielen werden: Sie sind in der gegenwärtigen Auseinandersetzung nämlich Symbole einer vom Westen seit dem achtzehnten Jahrhundert betriebenen Vermessung von Geschichte und Geografie des Nahen und Mittleren Ostens, eine Aneignung, die ausgerechnet in den Meldungen westlicher Medien über diese Zerstörungen ein letztes Mal manifestiert wird, indem diese Objekt als auch uns zugehörig reklamiert werden. Das Interesse der frühen Orientreisenden an archäologischen Stätten hatte sie allzu oft für die Gegenwart blind gemacht. Das riesige Katalogwerk der "Description de l'Égypte" von 1809, das sich Napoleons Ägypten-Feldzug verdankt, ist dafür beispielhaft. Der weitaus größte Teil des Werks ist dem alten Ägypten gewidmet, Islamisches ist nur mit wenigen Beispielen vertreten.

Die Archäologie hat gleichsam Umgehungsstraßen gebaut. Umgangen wurde die Geschichte des Islams, seine kulturellen, nicht zuletzt architektonischen Errungenschaften, sowie die Gegenwart der dort lebenden Menschen. Diese selektive westliche Aneignung, die im Tourismus ihre Fortsetzung gefunden hat, kann der aufmerksame Beobachter noch heute studieren: Im ganzen Niltal sind die steinernen Zeugnisse des alten Ägypten mit gemeißelten Graffiti westlicher Reisender des neunzehnten Jahrhunderts übersät, eine Parade des europäischen Adels, angeführt von den Briten, dicht gefolgt von den Franzosen. Aber auch Deutsche, etwa Fürst Pückler, haben sich verewigt - ebenfalls eine Art des Vandalismus. Bevor Lawrence von Arabien in die Dienste des britischen Militärs trat, war er Grabungsleiter auf einer Ausgrabungsstätte in Syrien, fast in Sichtweite der deutschen Konkurrenz. Man buddelte und vermaß nebenbei die zukünftigen Schlachtfelder, lernte die lokalen Dialekte, zog sich Vertrauensleute heran. Unschuldig war das westliche Interesse an nahöstlichen Trümmern zu keinem Zeitpunkt.

Ferner verschleiert die Aufmerksamkeit auf den IS die wahhabitischen, sprich saudi-arabischen Ursprünge des Vandalismus und vertagt wieder einmal die nötige Auseinandersetzung mit dem janusköpfigen westlichen Verbündeten Saudi-Arabien. Der IS kopiert das Erfolgsrezept der Wahhabiten, die sich im 19. Jahrhundert mit der Zerstörung von Gräbern und schiitischen Heiligtümern ideologisch profiliert hatten. Der Ikonoklasmus gehört bis heute zum unhinterfragten Kernbestand der wahhabitischen Ideologie, die durch den Export von Predigern, Moscheebauprojekten, Gastarbeitern und Studenten dank unerschöpflicher Geldmittel bis hin nach Indonesien verbreitet worden ist. Die westliche Politik schaut bis heute weg und verkauft Waffen, mit denen Saudi-Arabien nun seit fast einem halben Jahr in Jemen Krieg führt. Was dort jenseits von Existenzen noch alles zerstört wird, bleibt der Weltöffentlichkeit verborgen, weil die arabischen Medien komplett im Griff Saudi-Arabiens und seiner Verbündeten sind und ausländische Korrespondenten in Jemen kaum noch arbeiten können.

Schließlich erinnert uns der Vandalismus des IS daran, dass die gezielte Zerstörung des architektonischen Erbes bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein auch in Europa ein von allen Seiten geübtes Mittel zur Demoralisierung des Gegners war. Nennen wir als Beispiele nur die Zerstörung der seit dem Jahr 1034 bestehenden Wormser Synagoge in der "Reichskristallnacht" (und auch von dort tauchten die Spolien später im Kunsthandel auf), nennen wir aber auch die militärisch völlig sinnlose Zerstörung des barocken Dresden durch alliierte Bomber. Und erinnern wir uns, dass vor dem Auftauchen des IS die gezielte Zerstörung von Kirchen ein Privileg des Kommunismus war. Bereits 1936 wurde mitten in Kiew das 800 Jahre alte Michaelskloster dem Erdboden gleichgemacht, 1931 wurde die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammende Moskauer Erlöserkathedrale zugunsten eines niemals realisierten "Palasts der Sowjets" abgerissen.

Der Hinweis auf all diese Zusammenhänge soll die Taten des IS nicht relativieren. Er nimmt den Banausen nur, womit sie sich brüsten, ihr vermeintliches Alleinstellungsmerkmal in Sachen Barbarei, ein Image, das wir dankbar für bare Münze nehmen, weil es die europäische Vorgeschichte des modernen Vandalismus so leicht vergessen macht. Selbst wenn es uns aber bei unserem plötzlichen Interesse an abgelegenen Klöstern und spätantiken Ruinenfeldern in Syrien und im Irak wirklich um die Kultur ginge, müsste man doch die relative Enge dieses Kulturbegriffs beklagen. Wir könnten dem IS nämlich auch ohne den Einsatz von Bodentruppen, ohne Drohnen und Waffenlieferungen an fragwürdige Verbündete selbstbewusst und moralisch entschieden gerade auf kulturellem Gebiet entgegentreten. Es würde genügen, das Interesse von dem, was der IS zerstört, auszuweiten auf das, was er gern zerstören würde, aber nicht zerstören kann, das große literarische Erbe der muslimischen Welt.

Kann man den Eiferern ihre eingebildete Deutungshoheit über die arabische Kultur entreißen?

Nehmen wir allein die Gebiete, in denen heute der Krieg tobt. Die umkämpfte syrische Stadt Ma'arrat al-Nu'man nahe der IS- Hauptstadt Raqqa etwa ist bekannt als Heimat eines der größten arabischen Dichter des Mittelalters, Abu l-Ala al-Ma'arri (973 - 1057). Als Kind erblindet, ist er einer der größten skeptischen Dichter der Weltliteratur geworden, ein arabischer Cioran, der vor 1000 Jahren schon die richtigen Antworten auf jede Art von religiösem Fanatismus kannte. In der seit Langem vergriffenen Übersetzung von Cyrus Atabay finden wir die Verse: "Schmähsucht hat die Welt so entstellt, / dass wetteifernde Sekten sich gegenseitig die Botschaften verdrehen; / wäre nicht Hass dem Menschen angeboren / könnten Kirchen und Moscheen /nachbarlich beieinander stehen."

Auf eben dieses Erbe aufmerksam zu machen und es dem IS und seinen verblendeten Anhängern entgegenzuhalten wäre die richtige Antwort auf ihre Schandtaten. Nebenbei würden wir den Eiferern, auch denen in Saudi-Arabien, ihre eingebildete Deutungshoheit über die arabische Geschichte entreißen, uns selbst um ein Stück Weltliteratur bereichern und den arabischen Freunden klarmachen, dass wir um die Fülle ihrer Kultur jenseits allen Fanatismus wissen.

© SZ vom 26.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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