Inklusion:Voller Würde

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Ein finsteres Kapitel deutscher Kolonialgeschichte: das Stück "Sold!", mit dem die Unmute Dance Company aus Kapstadt beim Festival zu Gast war. (Foto: Oscar O'Ryan)

Tolles Theater beim Grenzgänger-Festival

Von Sabine Leucht, München

Es beginnt ganz spielerisch mit zwei Frauen und vielen bunten Seilen. Valérie Marsac und Kassandra Wedel sprechen deutsch, französisch und Gebärdensprache und sind im Neuen Zirkus wie im Tanz zuhause. Nun sorgen die beiden mit dem Stück "FIL - frz. Faden" für die erste Eigen-(Ko-)Produktion des Grenzgänger-Festivals des Münchner TamS.

Ein Kletterseil ist über den Köpfen der Zuschauer verspannt; mehr Seile gibt es auf der Bühne. Ihre Symbolfunktion wird anfangs benannt: Blau steht für Wut, Schwarz für Angst. Doch ganz so didaktisch geht es nicht weiter, auch wenn sich nach wie vor alles um Gefühle dreht. Marshall B. Rosenbergs Ideen zur "Gewaltfreien Kommunikation" standen Pate für den Abend, der zeigen will, wie man "das Leben wunderbar machen" kann. So wird die "Wut an den Nagel gehängt", Fadenlabyrinthe entstehen, und irgendwann liegt Wedel unter einem bunten Knäuel aus Schnüren und fühlt sich wohl. Wer Theater mit klaren An- und Aussagen mag, ist hier gut aufgehoben. Die Anderen können sich zumindest am Charme der beiden Performerinnen erfreuen.

Mit sieben Theaterproduktionen, einem Film und einer Ausstellung war das Grenzgänger-Festival 2018 internationaler denn je. Zehn Tage lang mutierten das TamS, das Theater Hoch X und die Kammer 2 der Kammerspiele zur Münchner Zentrale für Theater von Menschen mit und ohne Behinderung. Mit der Compagnie Création Ephémère war erstmals eine Gruppe aus Frankreich mit von der Partie. Aus Italien kamen das Teatro La Ribalta aus Bozen mit "Ali" und das Teatro Fringe aus Umbrien mit "7 Tipi d'Amore": Hier gingen die Performer anhand der Chakrenlehre der Frage nach dem erfüllten Leben nach. So weit die Ankündigung. Dabei blieb mangels Übersetzung und formaler Klarheit inhaltlich vieles im Dunklen. Und obwohl die Truppe einen wunderbaren Bauchtanzkünstler und noch mindestens ein weiteres herausragendes komisches Talent besitzt, macht der Abend zu wenig aus den Persönlichkeiten seiner Akteure. Vielen Szenen fehlt der Rhythmus und sie verläppern im Irgendwie.

Ganz anders ist das, was der Wiener Choreograf und Philosoph Michael Turinsky zeigt, bei dessen kurzem Solo alles am rechten Platz ist. Turinsky, der sich in Doris Uhlichs "Ravemachine" von Technoklängen "fluten" ließ, wofür beide den Nestroy-Spezialpreis 2017 bekamen, beginnt hier in hilflos wirkender Rückenlage. Und es dauert, bis er sich so aus seinem Rollstuhl herausarbeitet. Jede willentliche Überstreckung des Körpers, jedes Querschießen eines Spasmus bekommt Zeit und Raum. Keine Musik, kein Beleuchtungswechsel lenkt davon ab. Man sieht genau, wie jede Bewegung ihren Weg durch den Körper macht, bis Turinsky auf Knien mit über den Kopf gestreckten Armen über die leere Bühne gehen oder sich immer wieder in die Brücke werfen kann.

Der Text, den er dazu rezitiert, ist eine prächtige intellektuelle Überforderung. Turinsky konstatiert, dass die theoretische Durchdringung der Möglichkeiten des inklusiven Tanzes noch in den Kinderschuhen stecke und das widerständige Potenzial der "eigensinnigen materiellen Opazität des behinderten Körpers" - also das Gegenteil der oft beschworenen Durchlässigkeit - sei. Er zitiert auch feministische Theorien und wertet die Bodennähe des behinderten Tänzers als "Kritik an der phallozentrischen Vertikalität". Damit gibt er sowohl zu denken als auch genug Stoff, um das, was er auf der Bühne tut, neu zu sehen. Das bereits 2012 uraufgeführte Solo "Heteronomous Male" thematisiert Männlichkeit, ohne auch nur eines der gängigen Klischees zu bemühen. Es feiert sowohl den Willen als auch den Körper, an dem der sich reiben muss. Der kurze Abend ist kein bisschen lieb oder poetisch, aber voller Würde. Und hin und wieder blitzt auch leiser Humor aus den Mundwinkeln des Solisten.

Zum Festivalabschluss gibt es wieder große Bilder. Zugleich aber bringt die Unmute Dance Company ein finsteres Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte nach München. Schwankend steht eine Frau in einem Lichtfleck, auf ihrem Rücken ein riesiger Sack voller rundlicher Gegenstände. Es sind Schädel, die für die Opfer des Massenmordes an Nama und Herero in Deutsch-Südwestafrika 1904 stehen, dem heutigen Namibia, das noch immer auf die Anerkennung der Gräueltaten als "Genozid" wartet. Die Schädel führen ein Eigenleben, zerren an den Performern der einzigen inklusiven Tanztheatergruppe Südafrikas, die aufs Schönste beweist, dass körperliche oder geistige Einschränkungen kein Handicap sein müssen.

Zwischen Soundgewittern zucken und fallen Körper, die Vergangenheit flüstert leise durch die Münder der sechs Performer, später werden laut "die Kolonie" oder der weibliche Körper zum Sprechen gebracht - aber ohne die pathetische Schwere, nach der das klingt. In "Sold!", wie der dennoch bedrückende Abend heißt, werden die Totenschädel für Spottpreise verschachert oder zwischen die Köpfe der Lebenden geklemmt. Das tänzerische Vokabular ist vorwiegend expressiv und nicht jedes eindrucksvolle Bild entschlüsselbar, die Botschaft heutig: "Das Massaker sagt: Erinnere dich an mich!", "Das Blut sagt: Lebe!" heißt es einmal. Und die Ausbeutung der Länder Afrikas, das Leiden vornehmlich schwarzafrikanischer Frauen hat ja nicht aufgehört. Auch deshalb sind Festivals wie dieses wichtig. Weil das Ziehen von Grenzen ebenso wenig eine Option ist, wie jegliche Hierarchisierung von Menschen.

© SZ vom 24.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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