Ingenieurskunst und Literatur:Die Spiralen, der Berg und die Ameisen

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Zum Start des Regelbetriebs im neuen Schweizer Tunnel: Ein Buch über "Gotthardfantasien".

Von Thomas Steinfeld

Vielleicht betrachtet ein Ingenieur seine Umwelt tatsächlich nur als technisches Problem. Und vielleicht sorgt diese Perspektive, wenn sie in einen literarischen Essay eingeht, für eine Sprache, die eine eigene Poesie besitzt. Sie wäre dann zum Beispiel in einer Passage über die "großvolumigen Fluchtwege"zu finden, die aus dem neuen Gotthard-Basistunnel ins Freie führen: "Die Beschallungsanlage wurde dort sehr eindrucksvoll mit der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven in Betrieb genommen. Sollte es ein Zug im Ereignisfall nicht bis zur Nothaltestelle schaffen und ein Halt im Tunnel unumgänglich sein, dann erfolgt die Evakuierung über sogenannte Querschläge."

Lars Dietrich heißt der Autor dieser Zeilen, die auf wunderbare Weise zeigen, wie ein Äußerstes an technischer Kompetenz in etwas sprachlich Surreales umschlägt: Innerhalb von zwei Hauptsätzen und einem Nebensatz kommt der Autor vom drohenden Unglück über Beethoven bis zu den Querschlägen, und dort, wo die Vorstellungswelten zusammenstoßen, klingt es ein wenig schrill - aber doch so, dass man weiß, was er meint, und eine Begeisterung für die eigene Arbeit erkennt, die sich ihre literarischen Mittel erst suchen muss.

"Was der Berg alles zulässt", staunt etwa Nora Gomringer

Beim Bau des Berliner Hauptbahnhofs war Lars Dietrich für die unterirdischen Verbindungen zuständig, beim Bau des Gotthard-Tunnels kümmerte er sich um die "bahntechnische Ausrüstung". Zur Eröffnung dieses nun längsten Eisenbahntunnels der Welt - an diesem Sonntag wurde der Regelbetrieb aufgenommen - verließ er sein Metier und beschrieb seine Arbeit in einem Essayband, der den durchaus angemessenen Titel "Gotthardfantasien" trägt: Denn hoch hinaus zieht es die Beiträger alle, auch den Berliner Ingenieur, der erkannt hat, dass man für den Bau einer "Flachbahn" durch einen Berg mehr brauche als einen "bodenständigen Eigenbrötler", nämlich einen "Tüftler" und "Manager", der zugleich ein "Intellektueller" sein müsse. Und aus dem Kreis der Intellektuellen kommt man ihm und allen anderen "Helmlingen" weit entgegen: "Der Chefgeologe ist der höchste Schweizer des Inneren", notiert der Schriftsteller Peter Weber, "immer wieder trafen die Mineure auf zuckerartiges Gestein, Mulden, die aufgegittert werden mussten." Zur Illustration legt der Ingenieur eine Zeichnung bei, wie sich die alte Bahnstrecke durch den Gotthard windet, mit zwei vollständigen Spiralschleifen auf jeder Seite.

Die Verknüpfung von nationalstaatlichen und technischen Fantasien macht aus diesem Band ein interessantes Buch, mit Spiralschleifen und ohne. Was sie verbindet, von Carl Spittelers Reiseführer "Der Gotthard", im Jahr 1896 als Auftragsarbeit der Bahngesellschaft entstanden, bis zu Friedrich Dürrenmatts Kurzgeschichte "Der Tunnel" (1952), vom ersten Reiseführer über den Gotthard (1888) bis zur Konstruktion der "Multifunktionsstelle Faido" am südlichen Tunnelende (dort können jetzt langsame Güterzüge von schnellen Personenzügen überholt werden), ist das Bewusstsein von natürlichem Risiko und maschineller Bewältigung: "Denn während der Gotthard zum Zentralsymbol der helvetischen Identität aufgefaltet wird", erklärt der Literaturwissenschaftler Peter Utz von der Universität Lausanne, "wird er gleichzeitig unterminiert und durchstoßen."

Für die beiden Seiten dieses Verhältnisses stehen die "Gotthardmänner" (Peter Weber), die, ausgerüstet mit Feldstechern, Fahrplänen und detaillierten Karten, jede Veränderung an Berg und Technik registrieren. Längst schon besteht diese Gruppe nicht nur aus Männern: "Was der Berg alles zulässt", staunt die Dichterin Nora Gomringer, "Durchschuss und Ameisenstraße." Ebendiese Motivlage muss den Schweizer Bundesrat im Jahr 2014 bewogen haben, den Umgang mit der Lawinengefahr als "immaterielles Kulturerbe" der Nation bei der Unesco zu reklamieren. Bislang hatte die Schweiz wenig Erfolg mit diesem Ansinnen. Aber das ist vielleicht ein Missverständnis. Dieses Buch ist geeignet, es zu beheben.

© SZ vom 12.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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