Immigration:Still, gehorsam und unerbittlich fleißig

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In Italien sind Immigranten aus China zu einer großen Minderheit geworden. Die Kanadierin Suzanne Ma berichtet, wie es dazu kam und was daraus folgt.

Von Thomas Steinfeld

Jedes Mal, wenn einer der alten Läden an den wenigen Einkaufsstraßen schließt, die der einheimischen Bevölkerung in Venedig geblieben sind, geht ein Gerücht um. Das Geschäft für Eisenwaren, die Händlerin für Kurzwaren, die Drogerie gehen zum letzten Ausverkauf über, und schon heißt es, die Räume würden von Chinesen übernommen. Oft trifft das Gerücht zu. Jedes vierte oder fünfte Geschäft an der Via Garibaldi, dem zugeschütteten Kanal im Stadtteil Castello, dürfte mittlerweile in chinesischen Händen sein. Das ist nicht nur in Venedig so. Auch tief in der Provinz stößt man auf Bars, Läden und Werkstätten, die von Chinesen betrieben werden, weit entfernt von den Chinatowns, die es in den großen Städten gibt, in Mailand, in Rom, in Neapel oder in Prato. Etwa dreihunderttausend chinesische Staatsangehörige seien im Land, meldet die staatliche Statistik. Die naturalisierten Immigranten werden nicht gezählt, ebenso wenig wie deren Kinder. Wie viele illegale Einwanderer hinzukommen, ist kaum zu schätzen. In Prato, wo es eine chinesische Textilindustrie gibt, soll nur jeder dritte Chinese eine Arbeitsgenehmigung besitzen.

Nach zweieinhalb Jahren im Land, bei zwölf Stunden Arbeit am Tag, gibt es 500 Euro im Monat

Rumänen, Marokkaner und Albaner bilden die drei größten Gruppen unter den Einwanderern in Italien. Dann kommen die Chinesen. In der Öffentlichkeit sind sie weniger sichtbar, als es ihrer Zahl entspräche. Gewiss, hinter dem Tresen oder als Bedienung in einer Bar treten sie auf, und spätestens seitdem sich im April 2007 in Mailands Chinatown ein Straßenkampf zwischen jungen Einwanderern und der Polizei entzündete, gibt es ein öffentliches Bewusstsein, dass da eine Gruppe von beträchtlicher Größe existiert - und es gibt eine ganze Reihe von Romanen, die, oft verfasst von Einwanderern der zweiten Generation, auf die Gegenwart einer chinesischstämmigen Minderheit reagieren. Aber ein großer Teil dieser Bevölkerungsgruppe bleibt verborgen in Industriebauten an den Ausfallstraßen. Dort arbeiten die Einwanderer, zwölf Stunden am Tag oder mehr, dort essen sie. Viele von ihnen schlafen auch dort, und manche sterben neben ihren Nähmaschinen.

Die Reaktionen der Einheimischen auf die Gegenwart der Chinesen sind gespalten: Auf der einen Seite bilden sie eine Parallelgesellschaft, die diesen Namen tatsächlich verdient - mit Regeln und Routinen, die nicht einsehbar und nicht leicht verständlich sind und den Einheimischen Anlass für Spekulationen aller Art liefern. Auf der anderen Seite erscheint die chinesische Immigration kulturell als wenig anstößig - und zugleich als ein Muster der Eingliederung in den angewandten Kapitalismus, das attraktiv und bedrohlich zugleich wirkt. Die neuen Nachbarn sind still, gehorsam und unerbittlich fleißig, und sie sind es auch dann, wenn das Unternehmen, von dem sie sich ausbeuten lassen, ein Gewerbe jenseits der Legalität betreibt.

Vor Kurzem ist in den Vereinigten Staaten ein Buch erschienen, das auf eine halb dokumentarische, halb persönliche Art sichtbar macht, was es mit der chinesischen Einwanderung nach Italien auf sich hat: Die kanadische Journalistin Suzanne Ma verfolgt in ihrem Buch "Meet Me in Venice" (Rowman & Littlefield, Lanham 2015) die Schicksale einer jungen Frau namens Ye Pei, die mit siebzehn Jahren ihre Heimatstadt Qingtian in der südchinesischen Provinz Zhejiang verlässt, um in Italien mehr Geld zu verdienen, als sie daheim je bezahlt bekäme. Von der Mehrheit der mittlerweile umfangreichen italienischen Literatur zu diesem Gegenstand unterscheidet sich das Werk dadurch, dass es zum einen ein Sachbuch ist und zum anderen aus China wie aus Italien berichtet.

In manchen Fabriken besteht die Arbeit darin, die Schilder "Made in China" zu entfernen

Ye Pei arbeitet als Putzfrau in einer Bar in einer Kleinstadt bei Venedig, sie sammelt Pilze in einer Champignonfarm bei Rimini, sie arbeitet als Kellnerin in einem chinesischen Schnellrestaurant. Als sie nach zweieinhalb Jahren wieder einmal umzieht, in eine neue Stadt, zu einem neuen Job, verdient sie immer noch nicht mehr als fünfhundert Euro im Monat. Aber in einem Ort bei Verona wird sie bald zusammen mit ihrem Freund eine Bar eröffnen, mit einer silbernen Espressomaschine, die sie selber bedienen wird.

Noch zur Jahrtausendwende lebten in Italien kaum mehr als eine Million Ausländer. Fünfzehn Jahre später sind es fünf Millionen, die "clandestini" nicht gerechnet. Am Beispiel von Ye Pei erzählt Suzanne Ma, wie es zum chinesischen Anteil an dieser Vervielfachung kam. Am Anfang steht eine arme Gegend in der chinesischen Provinz, in der das Auswandern eine Tradition besitzt, die über viele Generationen zurückreicht. Von staatlicher Seite wird sie zumindest geduldet, wenn nicht gefördert. Viele Menschen dort warten auf ein Visum, sei es, weil sie schon Verwandte in Italien haben, sei es, weil sich jemand finden lässt, der den italienischen Behörden erklärt, als Unternehmer einen Bedarf an einer spezifischen Arbeitskraft zu haben. Dafür lässt sich derjenige gut bezahlen, mit bis zu zwanzigtausend Dollar pro Einwanderer, und wenn dieser dann auf dem Flughafen Mailand ankommt, gibt es diesen Job selbstverständlich nicht mehr - worauf eine Wanderschaft durch wechselnde Arbeitsgelegenheiten beginnt, die manchmal zu einem regulären Arbeitsplatz führt, oft aber nicht. Voraussetzung für solche Wanderschaften ebenso wie für die größer werdende Zahl chinesischer Immigranten sind informelle Netze, häufig gespannt durch erweiterte Clans, in denen sich die heimatlichen Verhältnisse spiegeln.

Auch die Industrie der Heimat spiegelt sich in Italien: Die Einwanderer belegen die Hallen, die nach dem Untergang der italienischen Textilindustrie leer standen, in Prato und anderswo. Sie richten dort chinesische "sweatshops" ein, mit chinesischen Stoffen, chinesischen Techniken und Löhnen, die näher an den Verhältnissen daheim als am italienischen Niveau liegen.

"Pronto Moda", "schnelle Mode" heißt das Gewerbe, in dem es darauf ankommt, irgendwo ein interessantes Kleidungsstück zu entdecken, gleich welcher Marke und welchen Preises, es zu fotografieren und das Bild in eine solche Fabrik zu schicken. Innerhalb weniger Tage ist es dann lieferbar, in nahezu beliebigen Mengen. Daneben werden Waren für die internationalen Ketten produziert, die modische Kleidung für wenig Geld anbieten - und manchmal auch für die teuren Marken, für Prada, Dolce & Gabbana und Armani.

Doch machte sich die ökonomische Krise, die im Jahr 2008 begann und für Italien keineswegs abgeschlossen ist, in der Textilindustrie noch deutlicher bemerkbar als in anderen Branchen. Die "sweatshops" verringerten ihr Personal, mit der Folge, dass ihre Arbeiter ausschwärmten, überall dorthin, wo es einen Bedarf an zusätzlichen Kräften gibt, zu äußerst niedrigen Löhnen. Viele von ihnen fanden in Bars ein Auskommen, zumindest vorübergehend, bis von dem wenigen Geld (von dem stets ein Teil nach Hause geschickt wird) so viel zusammengekommen ist, dass man sich auf niedrigstem Niveau selbständig machen und ein Geschäft eröffnen kann: So entstehen die neuen Läden auf der Via Garibaldi und anderswo, auf der Grundlage von erbarmungsloser Ausbeutung und Selbstausbeutung, unter der Voraussetzung, oft jahrelang von der Familie und den Freunden getrennt zu sein. Und so entsteht, langsam, aber konsequent, ein chinesisches Unternehmertum in Italien - und eine öffentliche Präsenz in Gestalt von Geschäftsimmobilien, die schon jetzt manchmal ganze Straßen beherrschen.

Zu den eindrucksvollsten Passagen in Roberto Savianos "Gomorrha" (2006), seinem Bericht über das organisierte Verbrechen in Neapel, gehört die gleich zu Beginn erzählte Geschichte, wie ein für China bestimmter Container plötzlich aufspringt und Dutzende gefrorene Leichen herausfallen: "Die Chinesen, die ewig leben. Die Unsterblichen, die ihre Papiere vom einen zum anderen weiterreichen." Über die Verbindungen zwischen den Agenten der italienischen Einwanderung in Italien und dem organisierten Verbrechen spricht Suzanne Ma nicht, im Unterschied zur italienisch-chinesischen Kriminalliteratur, die es längst auch gibt. Die Verbindungen sind gleichsam unterstellt, und sie werden jedesmal offenbar, wenn die venezianische Polizei eine Razzia gegen den Handel mit gefälschter Markenwaren auf den Brücken der Stadt unternimmt und deswegen in Prato eine Fabrik ausgehoben wird. Und die Gestorbenen? Viele von ihnen werden tatsächlich in die Heimat zurückgebracht, weil sich das Totenreich der Chinesen weniger im Jenseits als in einer Art Nachbarschaft zu den Lebenden befindet.

In den großen Städten Italiens begegnen die chinesischen Einwanderer in zunehmendem Maße Landsleuten, die daheim wohlhabend geworden sind: Meist in großen Gruppen ziehen sie durch die berühmten historischen Stätten und lassen sich erklären, was es jeweils zu sehen gibt - obwohl man stets einigen von ihnen ansieht, dass sie das, was sie da betrachten, bloß für einen Haufen alter Steine halten. Das rührendste Kapitel in Suzanne Mas Buch gilt einem Ausflug ihrer Protagonistin nach Venedig, einer Stadt, von der sie nicht mehr weiß, als dass sie im Wasser liegen und sehr schön sein soll. Eine halbe Million Chinesen waren im vergangenen Jahr in Italien, und in diesem Jahr sollen es fast doppelt so viele werden, der Weltausstellung wegen. Und so kommen sie auch nach Mailand. Dort sehen sie den großen grauen Quader, in dem die ehemals sehr italienische Firma Pirelli zu Hause ist. Seit diesem Frühjahr gehört sie, für 7,1 Milliarden Euro, einem chinesischen Konzern.

© SZ vom 16.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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