Ideengeschichte:Feminismus, Freiheit, Frömmigkeit

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Ulrich R. Lehner erzählt die Geschichte reformfreudiger Katholiken vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart - leider zu Lasten der säkularen Aufklärung.

Von Steffen Martus

Ulrich L.Lehner: Die Katholische Aufklärung. Weltgeschichte einer Reformbewegung. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2017. 271 Seiten, 39,90 Euro. (Foto: Verlag)

Die katholische Kirche erträgt viele Reformvorschläge. Verheiratete Priester? Scheidung und Wiederverheiratung? Engagement für die Armen statt für die Kurie? Aktive Teilnahme der Laien an der Eucharistie? Ökumene? Alles schon einmal dagewesen: Bereits in der Frühen Neuzeit wurden diese Themen diskutiert, im 18. Jahrhundert insbesondere von Vertretern der katholischen Aufklärung.

Ulrich L. Lehner, Professor für Religionsgeschichte in Milwaukee, hat dazu 2016 ein Standardwerk vorgelegt, das nun auf Deutsch erschienen ist. Ausgehend vom Tridentinischen Konzil im 16. Jahrhundert zieht er eine lange historische Linie, die ins Zweite Vatikanische Konzil mündet. Die Suchbewegung richtet sich auf einen Katholizismus, der die Moderne nicht als Feind des Glaubens, sondern als Chance für die Vertiefung von Frömmigkeit und Spiritualität auffasst. Vertreter dieser Richtung akzeptieren die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften, sie nehmen Sinnlichkeit ernst, bemühen sich um eine vernünftige Begründung dogmatischer Positionen und plädieren für Toleranz. Reformbereitschaft resultierte für die katholische Aufklärung aus der Einsicht in die Geschichtlichkeit der Kirche einschließlich der biblischen Offenbarung. Was geworden ist, kann sich auch zum Besseren verändern.

Dem Papst kam dabei die Position eines Bischofs unter anderen zu. Seine Autorität wurde regelmäßig in Frage gestellt, so dass zentralistische Bestrebungen eher im Sand verliefen. Eine wichtige Pointe der großen Erzählung besteht darin, dass sich der Ultramontanismus erst im Gefolge der Französischen Revolution und mit Napoleon gegen die katholische Aufklärung etabliert hat - auch hier also frisst die Revolution ihre Kinder. Danach galt der "Heilige Stuhl" lange Zeit unangefochten als letzter Sachwalter des wahren Glaubens "in einer vom Liberalismus verdunkelten Welt".

Lehners Darstellung beeindruckt durch enorme Materialfülle. Er findet Beispiele für einen "reformfreundlichen Katholizismus" in ganz Europa, in Süd- und Nordamerika und in Asien. Seine Argumentation hat dabei eine apologetisch-revisionistische und eine eher destruktiv-kritische Komponente. Zu Gunsten katholischer Autoren und Geistlicher werden insbesondere jene Aussagen verbucht, die mit den Normen und Werten einer liberalen Bürgergesellschaft der Gegenwart übereinstimmen. Das Verfahren geht zu Lasten der säkularen Aufklärung. Deren Vertretern weist Lehner mit Vorliebe unangenehme Positionen nach: So plädierten selbst Kritiker der Sklaverei wie John Locke oder Montesquieu letztlich nicht für deren Abschaffung, weil sie von der Minderwertigkeit der "Neger" überzeugt waren. Im Gegensatz dazu lehnte der Priester und spätere Bischof Henri Grégoire die Sklaverei grundsätzlich ab, weil er den Gedanken einer "Hierarchie der Menschenrassen" verwarf, und zwar aufgrund seiner Glaubensüberzeugung. Lehner zufolge, besaß die religionsdistanzierte Aufklärung keinesfalls das Patent auf die allgemeine Geltung der Menschenrechte oder die Achtung der Menschenwürde.

Welche Bedeutung aber hatten die Reformstimmen innerhalb der katholischen Kirche? Und wie selektiv nimmt Lehner den Rest der Aufklärung wahr? Kurios erscheinen die Argumente für und wider die weibliche Emanzipation. Bekanntlich machte der Mainstream der männlichen Aufklärung auch bei diesem Thema keine gute Figur. Weibliche Intellektualität erschien verdächtig, Frauen wurden zu empfindsamen Wesen erklärt, deren Bestimmung sich im privaten Kreis der Familie als Mutter erfüllen sollte. Lehner formuliert provokativ: Die säkulare Aufklärung habe Frauen zu "Gebärmaschinen" degradiert. Die katholische Kirche hingegen, die seit dem Tridentinum auf der freien Ehepartnerwahl beharrte, sei für die "Erfindung der 'Liebe'" wesentlich mitverantwortlich. Sie verließ sich auf die göttliche Familienplanung, empfahl gelegentliche Enthaltsamkeit und die gemeinsame Feier von Hochzeitstagen. Auf diese Weise habe die Kirche eine "Entwicklung hin zur Intimität in der Ehe" befördert und ein "Wachsen der ehelichen Partnerschaft". Das klingt dann doch ein wenig zu einfach.

Frappierend ist auch die Idee, katholische Frauen-Orden, die gerade vom 16. bis 18. Jahrhundert gegründet wurden, zur Quelle des "Proto-Feminismus" zu erklären. Entgegen landläufiger Meinung zielten nämlich gerade "Weibliche Orden" darauf, "ihre Selbständigkeit und ihre Rechte auf Selbstverwaltung" gegen männliche Bevormundung zu wahren. Die Alliteration "Feminismus, Freiheit, Frömmigkeit" wirkt offenbar sehr verführerisch.

Der Status solcher Thesen lässt sich nur schwer einschätzen. Lehner weist oft genug darauf hin, dass die von ihm zitierten katholischen Aufklärer eine Minderheit waren. Bei den Jesuiten beispielsweise sammelt er die Ordensleute ein, die Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften gegenüber offen waren, zugleich den "gesunden Menschenverstand" schätzten, die Moral naturrechtlich ausrüsteten und überhaupt die sinnliche Erkenntnis nicht verachteten. Diese Jesuiten harmonisierten die Lehren der Bibel mit aktuellen philosophischen Positionen. Dass der Orden "im Großen und Ganzen ... weiterhin auf der Studienordnung von 1599" beharrte, "obwohl diese von nahezu allen Zeitgenossen als hoffnungslos veraltet angesehen wurde", wird nebenbei erwähnt, verblasst indes angesichts des Fortschrittsberichts.

Der Gewinn dieses Verfahrens liegt zweifellos in einer eindrucksvollen Belegsammlung, die vor schlichten Verallgemeinerungen zur katholischen Geistesgeschichte bewahrt. Die Kosten bestehen jedoch darin, dass Lehner nicht eigentlich ein Buch über die "katholische Aufklärung" als Epochenbewegung geschrieben hat, sondern über den "Reformkatholizismus". Wenn er die "Heiligen, welche diese Zeit hervorbrachte", für "bedeutender" und "sicherlich einflussreicher" als alles andere hält, "obwohl keiner von ihnen ein Freund der katholischen Aufklärung war", dann weil diese "wichtige Anliegen der tridentinischen Reformbewegung" verkörperten. Damit sind die historischen Längsbezüge von Tridentinum zum Zweiten Vatikanum entscheidend, nicht die epochalen Querbezüge.

Lehner entscheidet sich stets für den Anschluss an aktuelle Reformanliegen

Lehner fordert von einer "seriösen" historischen Auseinandersetzung zum einen, dass diese "frei von aller Apologetik" verfahre. Wer aber eine Reflexion darüber anregen möchte, ob Katholiken, die von staatlicher Seite wegen Glaubensentscheidungen verfolgt oder hingerichtet wurden, als Märtyrer aufgefasst werden sollen, bezieht doch einen konfessionell recht eindeutigen Standpunkt. Zum zweiten fordert Lehner, historische Phänomene in ihrem "Kontext" aufzufassen. Auch dabei kommt ihm die reformkatholische Agenda ins Gehege. Anders als in seiner großen Studie über "aufgeklärte Mönche" des Benediktinerordens ( Enlightened Monks. The German Benedictines 1740-1803, Oxford 2011) werden institutionelle Rahmungen, Veränderungen des Sozialsystems oder der politischen Ordnung weitgehend ausgeblendet.

Damit bleibt häufig unklar, ob bestimmte Positionen aus einem katholischen Bekenntnis folgen, ob sie unabhängig davon bezogen werden oder vielleicht sogar in Spannung dazu stehen. Wenn die Vertreter des Katholizismus in Frankreich 1682 die "gallikanischen Freiheiten" erklären und sich von Rom lossagen: Ist dies primär in eine lange Tradition demokratischer Bestrebungen innerhalb der katholischen Kirche zu stellen oder bildet die Etablierung des modernen Staates den privilegierten Kontext für ein angemessenes Verständnis? Lehner erwähnt durchaus solche alternativen Deutungsangebote, etwa im Fall des Trierer Weihbischofs Nikolaus von Hontheim, der in einer aufsehenerregenden Schrift "Über den Status der Kirche" (1763) die Autorität des Papstes infrage gestellt hat. Diese Position lässt sich als Erneuerung "klassischer konziliaristischer Prinzipien" verstehen oder als Reaktion auf die diplomatischen Interventionen päpstlicher Gesandter und damit auf zeitgenössische Probleme der Herausbildung staatlicher Souveränität. Lehner entscheidet sich stets gegen eine starke Historisierung und für den Anschluss an aktuelle reformkatholische Anliegen. Das erschwert die Einbettung der Ergebnisse in die Aufklärungsforschung, bietet aber der katholischen Kirche die Möglichkeit, sich von einer verschütteten Tradition inspirieren zu lassen.

© SZ vom 15.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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