Ich-Plakate:Augen machen

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Valentin Groebner erzählt erstaunliche Geschichten über alte und moderne Porträts, die auf uns schauen.

Von Fritz Göttler

Bilder, die sprechen, Bilder, die Ich sagen, sie sind von einer aufdringlichen Präsenz in der Welt heute, im öffentlichen Raum der Städte. Plakate und Werbebilder in Bahnhofsunterführungen oder Fußgängerzonen, die den Kontakt suchen mit den Passanten. Wo kommen sie her, wollte Valentin Groebner wissen, dem sie auch tagtäglich begegnen, er ist Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Von den Waren allgemein hat Diedrich Diederichsen mal geschrieben, sie seien Untote: "Deswegen ihre notorische Tendenz zu zwinkern, zu grüßen und auf sich aufmerksam zu machen." Ähnlich zombiehaft gebärden sich auch die Plakate, im Dienst der beworbenen Marken.

Es geht Groebner nicht um die ästhetischen Mittel der Werbung und nicht um Kritik an der Manipulation durch Bilder oder der schrecklichen neuen Bilderflut, sondern um ihr Funktionieren im gesellschaftlichen Kontext - und um ihre Herkunft aus Mittelalter und Früher Neuzeit. Schon da sind Bilder nicht reines Anschauungsmaterial, wie in den klassischen Ästhetiken suggeriert, Objekte eines schauenden Subjekts. Sie treten in Interaktion, übernehmen einen aktiven Part und sprechen den Betrachter an. Sie wollen ihn in Fiktionszusammenhänge verwickeln und Gefühle bei ihm auslösen, wollen wie eine Person wahrgenommen werden. Eine Kommunikation, die auf Animation hinausläuft, also auch auf Animismus. Die Bilder fixieren uns, am nachdrücklichsten und unheimlichsten die vom Big Brother oder die amerikanischen Rekrutierungsplakate, in denen Uncle Sam uns braucht.

Die Geschichte dieser Fixierung beginnt mit den mittelalterlichen Ikonen und Heiligenbildern und setzt sich fort in die Porträtmalerei der Renaissance. Schon mit den frühen religiösen Effekten der Ikonen werden erstmals die Fragen von Identität und Individualität, von Ähnlichkeit und Gleichheit, von Authentizität und Unverwechselbarkeit, Abbildungstreue und Erkennungsraster angesprochen, die über Jahrhunderte die Diskussion ums Ich, seine Kohärenz und seine Konsequenz, bestimmen. Wie das Innen sich im Außen ausprägt, welche Wahrnehmungsprozesse dabei involviert sind und welche Techniken der Abbildung. Und wieso ein Bild, das mit möglichst großer Genauigkeit das Gesicht eines Menschen festhält, weil der Mensch sich unaufhörlich verändert, die angestrebte Ähnlichkeit immer verfehlen muss. Eugène Delacroix: "Wer von uns hat nicht hundert Gesichter? Wird mein Porträt von heute morgen dasjenige von heute Abend und von morgen sein?" Diese Dialektik des Verkennens, die ihre Paradoxien bis in die modernen Überwachungsmethoden hinein entwickelt, faszinieren Groebner seit Langem, er hat sie bereits mehrfach behandelt, zum Beispiel in seinem Buch "Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters".

Fürs Mittelalter hat Valentin Groebner eine Fülle Beispiele und Aspekte gesammelt. Seit Augustinus galt jedes menschliche Gesicht als individuell und einzigartig, zugleich aber, oder vielleicht gerade deshalb, sei in ihm Gott selbst gespiegelt. "Nummi dei sumus", der Mensch als Münze Gottes, als Siegelabdruck, in einer Art früher technischer Reproduktion. Auch Bilder reklamieren immer wieder das Siegel der Authentizität, mit dem das Bewusstsein von der Artifizialität der Bilder nicht kollidiert, wohl aber der Gedanke eines Fake. Eine der schönsten Formen direkter Reproduktion ist der Blickkontakt der Heiligen im Moment ihres Todes, dieses gängige Motiv, "wie das Gesicht . . . im Augenblick ihres Todes in buchstäblich überirdischer Schönheit erstrahlt sei, Abglanz der Schönheit dessen, was der sterbende Heilige schon vor Augen habe: Beweis seiner Heiligkeit und (kurze) himmlische preview in einem". Die Maler strengten sich an, die Gesichter dieser Heiligen so farbig und lebendig wie möglich zu gestalten, und Lebendigkeit wurde dann auch das Kriterium in der Renaissance - wenn die Herrscher sich porträtieren ließen, schufen die Insignien und der Dekor der Macht ihr Bild, nicht die Ähnlichkeit mit dem Mann. Und die Porträts schöner (unbekannter) Frauen waren ungeniert darauf hinkonzipiert, Emotionen auszulösen. Verliebte küssten das Bild der angebeteten Frau und sprachen zu ihm, schreibt Leonardo in seinem Traktat über die Malerei. Lebendigkeit, eine reine Frage des Effekts.

Vom Gesicht des sterbenden Heiligen als einer Art "interaktiver Bildschirm ins Jenseits", von solcher frühen Interface-Konstellation ist es dann ein fast natürlicher Übergang zur neuen direkten Reproduktionstechnik der Fotografie im 19. Jahrhundert, zur Fotoporträtkunst und zu den frühen cartes de visite, zu den ersten Versuchen, mit Fotodateien die Bevölkerung zu erfassen und zu kontrollieren. Und die neue Debatte um Original und Kopie erfasst im Rückblick auch die alten Meister der Malerei. Selbst ein Original"foto" von Jesu Gesicht wird entwickelt im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, das Turiner Leichentuch.

Eine der schönsten Geschichten, die Valentin Groebner von der Wunderkraft der Fotografie erzählt, spielt im Schweizer Wallfahrtsort Einsiedeln, dessen Madonna gegen Ende des 19. Jahrhunderts, nach einem Eisenbahnanschluss, ungeheuer populär geworden war. 2005 fand man im Archiv des Orts Kartons mit Briefen, die im Ersten Weltkrieg an das Kloster geschickt worden waren, mit Fotos von Soldaten drin, mit der Bitte: "Habe leider erst in den letzten Tagen vernommen, dass man die Männer zum Schutz mit Bild einschreiben lassen kann." Man muss sich das als Szene vorstellen, als Tableau, das Gnadenbild im Kreis der Fotografien. Eine Form der Medienmagie, die mit den alten religiösen Ikonen begann, und auf der Rückseite der Fotografien wird Ewigkeit garantiert: "Diese Platte bleibt für Nachbestellungen aufbewahrt", schreibt der Fotograf. Und einer der Profifotografen hieß Wiederkehr.

Valentin Groebner: Ich-Plakate. Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 204 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 19,99 Euro. (Foto: verlag)

Werbung sagt natürlich die Wahrheit - die Wahrheit über die Werbung

Weiter geht nur noch eine Geschichte aus Indien, über ein Ritual in der hinduistischen Tradition, das pranpratishta heißt (atmen machen), in dem ein von Menschen hergestelltes Bild zum Behälter der Gottheit gemacht, wahrhaft belebt werden kann. "Am Ende des Rituals bekommt das Bild dann Augen eingesetzt. Das ist ein Vorgang, der als heikel und unter Umständen gefährlich aufgefasst wird, denn der Blick in die Augen ist nichts Harmloses."

Parallel zur Geschichte der Fotografie ist immer die Geschichte der Werbung gelaufen, schon 1863 erschien ein erstes Buch über das Konzept von Anzeigen, William Smiths "Advertise: How? When?", von Beginn des 20. Jahrhunderts an wird sie als Kunstform gehandelt, in den Dreißigern wurde die Formel von der product personality geprägt. Von der Werbung handelt Groebners Buch und wie sie auf ihre historischen Vorformen reagiert. "Denn die Werbung, so wollte ich bei dieser Reise in die Vergangenheit zeigen, sagt natürlich die Wahrheit. Aber die Wahrheit über die Werbung . . ." Die Kunst der Werbung ist reflexiv von Anfang an. Sie inszeniert Evidenz, und diese Inszenierung gehört zur Rezeption durch den Betrachter. "Evidenz für den Glauben ihrer Macher und Auftraggeber an die Wirkung", das heißt "für ihren Glauben an den Glauben anderer Leute . . . Die Bildermacher der Werbeplakate sind gute Katholiken, fromme Hindus und vergnügte pragmatische Animisten: Latourwissenschaftler, könnte man sagen." Vom Kommunikationsforscher Bruno Latour stammt ein Motto in des Buches: "Animation ist keine Zauberei, sie ist Wissenschaft."

Das Gesicht auf dem Werbeplakat spricht, aber immer nur den einzigen Satz: "So machen wir das." Mehr Evidenz hat heute nur die Kanzlerin, wenn sie ihr "Wir schaffen das" sagt.

© SZ vom 13.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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