Homosexuelle Literatur:Der Weg meiner Augen

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Männerliebe in der modernen Welt. Was bleibt von Liebe, Beziehung und Sex, fragt Marko Martin in seinem Erzählband "Umsteigen in Babylon". Nicht die Hauptsache, sondern lauter Nebensachen. Denn die Augen haben Zeit zu wandern.

Von Dirck Linck

Die heterosexuelle und die homosexuelle erotische Imagination, hat Michel Foucault für die Literatur erläutert, unterscheiden sich in der Zeitlichkeit. Die heterosexuelle Fantasie antizipiere den Akt, errege sich an den Schritten einer die Treppe hinaufsteigenden Frau. Die schwule Imagination hingegen sei eine erinnernde und setze ein, nachdem der Lover ins Taxi gestiegen sei. Marko Martins neue Erzählungen können, wie die früheren Arbeiten des Autors, als Belege für Foucaults These gelten. Als Cruising-Erzählungen vermitteln diese meist kurzen Texte variationsreich und in wechselnder Perspektive Erinnerungen an die sexuellen Begegnungen, die der Journalist Daniel bei Streifzügen durch Berlin und auf seinen Ferien- oder Dienstreisen rund um den Globus hatte.

Das Vergangene wird hier als Vergangenes für einen Zuhörer vergegenwärtigt, den regelmäßig Florent, der Lebensgefährte, verkörpert. Diese dialogische Anlage festigt zum einen den Status des Buches als Erinnerungsliteratur und motiviert auch die mittlere Stilebene, die Martin konsequent durchhält. Sie hat zum anderen einen ganz praktischen Nutzen: Wer als von seinen Eroberungen fabulierender Causeur gezeigt wird, der überrascht nicht, wenn er stets die vorteilhafteste Beleuchtung wählt. Hier lernt ein junger, attraktiver Mann, der überdies permanent seine Belesenheit vorzeigt, überall auf der Welt junge, attraktive Männer kennen - und bekommt sie alle. Florent hingegen übernimmt innerhalb der erzählerischen Konstellation die korrigierende Aufgabe, Daniel durch seine Einwürfe mit ein paar kleinen Makeln zu versehen, gerade groß genug, um der poetischen Wahrscheinlichkeit Geltung zu verschaffen.

Der Sex mit Fremden wird von Martin nicht als anonymer Sex geschildert. Die Lover Daniels werden unter ihren Namen eingeführt, und mit den Namen strömen die Daten von einzelnen Geschichten - Migrationsgeschichten vor allem - in die Texte ein. Sie bestimmen deren Erscheinung als Skizzen aus einer globalisierten Welt. Anders als etwa Renaud Camus, der mit "Tricks" das Cruising-Genre begründete, ist Martin nicht primär an der die minimalistische Form einer Serie vorgebenden Serialität der geschobenen Nummer interessiert. Er stellt diese zwar lebendig und unter eigentümlich strikter Beachtung der Grenze zum pornografischen Schreiben dar, aber angesichts der "Entdeckung, dass, wer einen mit nach Hause nimmt, dies auch zehn oder zwanzig oder hundert anderen gewährt", bleibe am Ende "nur das, was dir jenseits des Sex allein gehört". Martins Erzählen verschiebt die Regeln des Genres, indem es nicht die poetische Überhöhung des Aktes selbst betreibt, sondern sich an einer Wahrnehmungskunst versucht, die den zahllosen kleinen Ereignissen gilt, die den Akt umstehen. "Der Weg meiner Augen. Nicht das Tun der Hände und der anderen Gliedmaßen."

Bei der Lektüre vollzieht der Leser eine mentale Bewegung Daniels nach, der seine Aufmerksamkeit von der Hauptsache, dem Sex, zum Nebensächlichen umlenkt und dieses zur Hauptsache der Vergegenwärtigung macht: Möbel, Bodenbeläge, Bilderrahmen, beiläufige Phrasen, der hechelnde Cockerspaniel am Bett des spanischen Lovers, all die desorientierenden Umstände des Koitus. "Da sie nur in den seltensten Fällen darauf bestanden, sich auf ihn zu setzen und Augenkontakt zu halten, konnte er während des Aktes seine Blicke schweifen lassen." Die Erzählung wird buchstäblich in eine unabgeschlossene Serie von zufälligen Ansichten transformiert, versammelt Einzelheiten, die auf vage aber intensive Weise von ihrer Beziehung zu den Menschen sprechen, mit denen Daniel sich verbindet. Die sexuelle Szene gerät in die Unruhe des Ereignishaften, und die Erinnerung an sie bezieht sich auf das, was der Fall war, als zwei Männer es miteinander trieben. Mutmaßungen und Gespräche verknüpfen sich schließlich mit den registrierten Einzelheiten, gehen den Linien nach, die von den Tatsachen gezogen werden, lassen Geschichte erzählbar werden. Reiz und Kraft gewinnen die Erzählungen Martins dort, wo historische und literarische Narration sich in ihnen überschneiden, wenn nach der Erzählung vom Sex mit Hasan klar ist, warum der schöne Pakistaner aus dem Imbiss an der S-Bahn-Station Gesundbrunnen bei der Einreise nach Deutschland keine wahrheitsgemäßen Angaben machen konnte.

Würden Erzähler und Protagonist den Phänomenen doch nur mehr vertrauen, ihrem Erscheinen mehr zutrauen. Was die Freude an der Lektüre deutlich mindert, ist nämlich die Nöligkeit Daniels, der den Dingen wortreich ihren Platz zuweist und all das nicht mag, was man in der Schwulenszene und anderen konservativen Kreisen eben nicht mag: Dicke, 68er, Kommunisten zum Beispiel. Dem "Ekel" vor Bataille und Barthes ist gar eine eigene Erzählung gewidmet. Kein Zufall, dass überdies die Sorge vor dem Verfall im Altern den Abräumer Daniel umtreibt und die Stimmung der Texte zunehmend verdunkelt. Zum Ressentiment hat dieses Buch eine allzu entspannte Haltung.

Marko Martin: Umsteigen in Babylon. Erzählungen. Männerschwarm Verlag, Hamburg 2016. 240 Seiten, 20 Euro. E-Book 11,99 Euro.

© SZ vom 16.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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