Historischer Roman:Die Uhr aus Worten

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In "Cox oder Der Lauf der Zeit" folgt Christoph Ransmayr einem englischen Uhrmacher ins chinesische Kaiserreich und meditiert über Schönheit und Vergänglichkeit.

Von Thomas Steinfeld

Vom Reisen handelt der jüngste Roman des vielgereisten österreichischen Schriftstellers Christoph Ransmayr, so wie die meisten der gut zwei Dutzend Bücher, die er bislang veröffentlicht hat. Zu einer Reise gehört, so will man meinen, die Begegnung mit dem Unbekannten und Unerwarteten (dadurch unterscheidet sich das Reisen im engeren Sinn vom Tourismus wie von den Reisen für das Geschäft), und das heißt auch: durch das Risiko und die Gefahr.

Zu einer Reise gehört aber ebenfalls, dass sie das Zufällige und Willkürliche in eine geschlossene Form überführt. Denn sie kennt den Aufbruch, die Ankunft und ein Ende, was niemand besser weiß als der Heimgekehrte, der von dieser Reise erzählt. Das gilt auch für die Reise, von der Christoph Ransmayr in "Cox oder Der Lauf der Zeit" erzählt. Sie führt irgendwann um die Mitte des 18. Jahrhunderts den Reisenden in ein fernes, unbekanntes Land.

"Cox", das ist Alister Cox, ein Mann, der aus Liverpool aufbricht, um zusammen mit drei Gefährten an den Hof des Kaisers von China zu reisen. Uhrmacher und Automatenbauer ist er von Beruf, weithin bekannt für besonders komplizierte und schmuckvolle Instrumente der Zeitmessung, und seine drei Begleiter sind erfahrene Handwerker, die ihm zuarbeiten. Die Gestalt dieses Alister Cox ist aus der Geschichte entlehnt, in der es tatsächlich einen Londoner Uhrmacher namens James Cox gab, dessen außerordentliche Schöpfungen bis nach St. Petersburg und nach Peking gelangten.

Wie misst man die fließende Zeit? Eine Wasseruhr in Gestalt eines Elefanten, konstruiert im 13. Jahrhundert. (Foto: dpa)

Alister Cox dagegen ist eine literarische Figur, einem Märchenhelden ähnlicher als dem Helden einer Abenteuergeschichte. Sieben Monate währt seine Reise, zweimal erleidet das Schiff einen Mastbruch, sie führt an malariaverseuchten Küsten entlang, doch am Ende erreicht der Barkschoner das chinesische Festland: "Nebelbänke zogen an diesem milden Herbsttag über das glatte Wasser des Qiántáng." Es war Aufbruch, und es war Ankunft, und in diesem Augenblick verwandelt sich die Reise in eine geschlossene Form.

Eine geschlossene Form ist aber, wie es sich erweist, auch das Ziel der Reise: Das China des Kaisers Qiánlóng, eines bürokratischen Feudalstaats von gigantischen Ausmaßen, und mitten darin die Stadt des Herrschers, ein Gemeinwesen, in dem jede Bewegung der Kontrolle zu unterliegen scheint und in dem es dennoch lauter unerwartete Bewegungen gibt. Ein plötzlich aufkommender Wind, eine Verschiebung in der Formation der Soldaten, vier langnasige Fremde, die wie Fürsten aufgenommen werden - all das wird mit einer Aufmerksamkeit wahrgenommen, die man mit der Betrachtung eines Kunstwerks assoziieren würde.

Siebenundzwanzig Steuerbeamten und Spekulanten werden die Nasen abgeschnitten, Wasserbüffel ziehen ihre Gespanne durch Reisfelder, dem Kaiser tränen die Augen. Das alles ist, wie es ist. Aber es ist doch in einer Ordnung gefasst. In dem Maße, wie die geschlossene Form das Zufällige, das Willkürliche und auch das Schreckliche in sich aufzunehmen vermag, ohne ihnen das jeweils Eigene zu rauben, entwickelt sie einen ästhetischen Reiz. Dieser Reiz ist ohne ein schmerzliches Bewusstsein von Vergänglichkeit nicht zu haben.

"Er empfand, dass dieser eine Augenblick im Angesicht des Kaisers und seiner Geliebten keiner Zeit mehr angehörte, sondern ohne Anfang und ohne Ende war." Christoph Ransmayr (Foto: dpa)

Alister Cox wurde nach China gerufen, weil der Kaiser eine Leidenschaft für Uhren hegt. Aber er ist nicht nur Sammler, der alle Zeiten unter seinem Dach zusammenführen will, sondern auch Forscher, und so verlangt er nach einer Uhr, wie es sie nie zuvor gab. Die Arbeit daran führt den Uhrmacher und seine Gefährten zuerst zum Bau einer "Winduhr", die das Zeitempfinden eines Kindes wiedergeben soll, dann zur Konstruktion eines zweiten Instruments, einer "Glutuhr", welche die Zeit eines Sterbenden erfassen soll, so, wie sie ihm schmerzlich als schwindende Zeit bewusst wird, und schließlich zu einem Werk, das "über alle Menschenzeit in den Sternenraum hinausschlug, ohne jemals stillzustehen, und deren Grenzen allein in der Dauer und im Geheimnis der Materie selbst lagen".

James Cox, der historische Uhrmacher, hatte etwas Verwandtes im Sinn gehabt, als er um das Jahr 1760 eine "atmosphärische Uhr" schuf, die von Luftdruckschwankungen betrieben wurde, was den Eindruck erweckte, sie arbeite aus eigener Kraft, sei also ein "perpetuum mobile". Christoph Ransmayr lässt für seinen Helden die Wirkung als die Sache selbst gelten und die Geschichte ins Märchen übergehen. Und so bekommen Meister Cox und seine Gefährten den Auftrag, eine geschlossene Form zu produzieren, die alle anderen geschlossenen Formen - und mit ihnen das darin enthaltene Zufällige und Willkürliche - in sich birgt und aufhebt. Er soll eine "zeitlose Uhr" bauen.

Die Uhr überträgt ihren mechanischen Charakter auf ihre Benutzer - und die Welt

Die Uhr ist das Instrument der Aufklärung schlechthin, und sie hat eine doppelte Wirkung: Sie überträgt ihren mechanischen Charakter nach außen, auf den Rest der Welt, und sie überträgt ihn nach innen, auf ihren Benutzer. Sie ist Beherrschung der Zeit und Unterwerfung unter die Zeit zugleich. Sie kann diesen doppelten Charakter nur besitzen, indem sie absolut gleichmäßig tickt, alles und jeden einem gleichen Maß unterwirft. Christoph Ransmayrs Cox aber ist ein Dichter unter den Erfindern. Er kennt unterschiedliche Zeitmaße, kriechende, schleichende, hüpfende, scheinbar stillstehende Zeiten, Zeiten für jungen Menschen, Zeiten für alte Menschen und Zeiten für chinesische Kaiser.

Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, 304 Seiten, 22 Euro. E-Book 19,99 Euro. (Foto: N/A)

Alister Cox ist nicht ganz Teil der Aufklärung, oder er ist über die Aufklärung hinaus. Und dennoch verwandelt die Uhr, eben weil sie eine Uhr ist, alles, was zuvor eine mythologische Idee gewesen war, in ein technologisches Projekt. Auch die Uhr ist eine geschlossene Form. Sie ist eine geschlossene Form, die viele andere geschlossene Formen in sich birgt.

Einen Augenblick gibt es in diesem Roman, in dem alle geschlossenen Formen transzendiert werden. Alister Cox verliebt sich in Ān, die Konkubine des Kaisers. Ihre Begegnung währt nur für die kurze Zeit, in der sich die beiden anschauen, beinahe zufällig: "Er empfand, dass dieser eine Augenblick im Angesicht des Kaisers und seiner Geliebten keiner Zeit mehr angehörte, sondern ohne Anfang und ohne Ende war, um vieles kürzer als das Aufleuchten eines Meteoriten und doch von der Überfülle der Ewigkeit: von keiner Uhr zu messen." Man kann diese Szene für einen Anfall von schwerem Kitsch halten, aus gutem Grund. Aber er gehört zur Konstruktion dieser Geschichte, und dieses Märchen handelt von den prekären Verhältnissen, die zwischen Schönheit und Vergänglichkeit walten. Dann ist dieser Augenblick vorüber, und die absolute Maschine, die Uhr aller Uhren, wird zwar vollendet, und selbstverständlich funktioniert sie. Und doch ist sie für immer beschädigt.

Nun fürchten die englischen Uhrmacher um ihre Heimkehr. Warum sollte der Herr der Welt sie gehen lassen, da sie doch ihren Zweck erfüllt haben? Aber auch der Kaiser ist ein Dichter, und allmählich entdeckt sich ihm das Wesen der geschlossenen Form. Zu Beginn der Geschichte gilt seine Leidenschaft dem fertigen Werkstück, allmählich aber ändert sich seine Perspektive. Immer wieder besucht er die Uhrmacher in ihrer Werkstatt. Von der Begeisterung für den vollendeten Apparat geht er über zum Genuss der Schönheit des Vollzugs, des Machens, die einer fertigen Maschine nicht anzusehen ist.

Am Ende sitzt der Kaiser vor der "Zeitlosen Uhr" und bedenkt das Vergehen der Zeit und das Vergehen der Macht - und setzt die Maschine nicht in Gang. Der historische Kaiser Qiánlóng, verrät Christoph Ransmayr im Nachwort, sei der einzige Herrscher über China gewesen, der auf den Thron verzichtete, nach Jahrzehnten an der Macht.

Vollkommene Instrumente sind schön. Das schönste Instrument ist hier die Sprache

Doch schon lange bevor die Geschichte an diesem Punkt angekommen ist, versteht der Leser, dass dieses Märchen nicht lediglich von geschlossenen Ordnungen handelt, sondern selbst eine geschlossene Ordnung ist. Er versteht, dass die Muße, die Aufmerksamkeit und die Präzision, die Alister Cox seinen Uhren oder die der Kaiser seinem Reich zuwendet, aufgehoben sind in einem System, das alle anderen Systeme transzendiert. Diese Ordnung ist die Sprache. Sie ist das Schönste an diesem Buch.

© SZ vom 29.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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