Hisotrischer Jugendroman:Gefangene des Marschalls

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Lilli Thal: Die Puppenspieler von Flore. Gerstenberg 2015. 478 Seiten, 19,95 Euro. (Foto: verlag)

Lilli Thals neuer Roman "Die Puppenspieler von Flore" spielt in einer von Kriegen und Gewalt geprägten Welt.

Von Siggi Seuß

Wann gab es zuletzt ein Jugendbuch von prosaischer Länge, das einen so in die Handlung zog? Lilli Thals Puppenspieler von Flore erinnert an den 2002 erschienenen Antikriegs-Roman Morgen war Krieg des Australiers John Marsden, in dem sich Seite für Seite die ausweglose Situation von Jugendlichen zuspitzt, die während einer Wanderung ins Outback erfahren, dass ihr Land von einer feindlichen Macht besetzt worden ist.

Wie Marsdens Roman prägt die Geschichte der in Franken lebenden Autorin (die mit bürgerlichem Namen Heidi Günther heißt) eine hochverdichtete Handlung aus Ereignissen in einer fiktiven Welt und realistischen Szenarien, mit psychologisch fein gezeichneten Charakteren. Lilli Thal siedelt ihre Geschichte in einer teils relativ modernen Welt an (es gibt Flugzeuge, aber keine Telefone) und in einem isolierten und rückständigen Land. Die Hauptschauplätze der Handlung heißen Corona - eine Weltmacht, die stark an die Vereinigten Staaten erinnert - und Flore, der mächtige Erzfeind im Osten, der in seinem diktatorischen Machtgefüge am ehesten Nordkorea ähnelt. Zwischen den beiden Mächten liegt ein kleiner Staat ohne Expansionsgelüste: Parman. Aus jenem Parman werden eines Tages zwanzig 16-jährige Jugendliche an ihrem letzten Schultag direkt aus ihren Klassenzimmern von coronischen Agenten entführt.

Wie wir Leser nach und nach erfahren, sind die jungen Leute geborene Coroner, die im Säuglingsalter mit Einwilligung der patriotischen Eltern in parmanische Pflegefamilien gegeben wurden. Die ahnungslosen Kinder wuchsen als Parmaner auf, bis man sie auf eine Militärbasis des coronischen Geheimdienstes brachte, um sie dort zu Spionen auszubilden, nach Flore einzuschleusen und dort als Domestiken in Haushalten mächtiger Personen arbeiten zu lassen.

Der Erzähler, Tamaso, ein handwerklich äußerst geschickter Junge, hat dabei den heikelsten Auftrag. Er arbeitet als Mechaniker im Haus eines für seine Brutalität berüchtigten Marschalls. Die furchtbarste Erfahrung für den jungen Mann ist die Entdeckung, dass, während man im ersten Stock des Anwesens die Geschichte Flores als filigranes Puppenspiel einübt, in den Kellergewölben Grausames geschieht. Dort werden Gegner des Regimes gefoltert und ermordet. Im Haus des Marschalls scheint es eine familiäre Opposition zu geben - Ehefrau und Sohn -, die mit dem historischen Puppenspiel die Brutalität des Systems auf subtile Art entlarven und damit auch Menschen vor dem sicheren Tod retten: Alle Spieler sind Gefangene des Marschalls.

Lilli Thal entwickelt mit großem dramaturgischen Geschick und einer lebensnahen, dialogreichen, stilsicheren und - vor allem in den Puppenspielszenen - auch poetischen Sprache eine komplexe und spannende Handlung. Sie wechselt die Schauplätze, lässt die Jugendlichen die Grausamkeiten und Abnormitäten eines Terrorregimes genauso erfahren wie die Überheblichkeit systemtreuer Anhänger der freien Welt. Die Jugendlichen treffen auf Menschen, die versuchen, ihre Individualität und Menschlichkeit zu bewahren, aber sie begegnen ebenso fanatisch verblendeten Gestalten. Und natürlich gibt es im Roman zarte erste Lieben, es gibt Freundschaften, aber auch ein von Hass zerfressenes Verhältnis zwischen zwei Jugendlichen. Die Handlung ist so geschickt zusammengefügt, dass an keiner Stelle das Konstruktionsgerüst hervorlugt. Was Lilli Thal bereits mit ihrem Roman Mimus bewiesen hat, bestätigt sich in Die Puppenspieler von Flore: Die Autorin gehört zu den großen Erzählern in der Jugendliteratur unserer Zeit. (ab 14 Jahre)

© SZ vom 07.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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