Henning Mankell:Das Fegefeuer glimmt

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Der letzte Roman des 2015 verstorbenen schwedischen Krimimeisters ist barockes Spektakel.

Von Thomas Steinfeld

Als Henning Mankell berühmt wurde, zuerst mit dem Roman "Mörder ohne Gesicht" aus dem Jahr 1991, bereicherte er das Genre des Kriminalromans um eine nordische Variante. Sie lebt von der Haltlosigkeit und bald auch von der maßlosen Grausamkeit eines Verbrechens, das selbst, ebenso wie der Verbrecher, kaum interessant ist. Durch diese Welt des Verderbens zieht eine gequälte Gestalt ihres Weges, halb Märtyrer, halb Ermittler, sodass die Entscheidung des deutschen Verlags, auf den Umschlägen dieser Bücher Gemälde aus dem Barock zu reproduzieren, zwar weit hergeholt, aber doch sinnfällig war: "Ach! und weh! Mord! Zetter! Jammer! Angst!", hatte Andreas Gryphius gedichtet, "wer kan die Pein ertragen?"

Das von Henning Mankell begründete Genre mag, eben weil das Verbrechen darin hauptsächlich als Gemetzel wirksam ist, eher eine theologische Veranstaltung sein denn eine kriminalistische: Die Welt (oder auch: die schwedische Gesellschaft) ist ein Jammertal, und der Weg hinaus führt durch den Alkoholismus, die Einsamkeit, die Demenz oder ein anderes Opfer an sich selbst. Da es diesen Weg immerhin gibt, so unsicher er auch sein mag, erzählt dieses Genre indessen nicht von der Hölle, sondern vom Fegefeuer.

Der schwedische Autor Henning Mankell im Jahr 2014. (Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)

Henning Mankell war schon todkrank, als im Frühjahr 2015 unter dem Titel "Die schwedischen Gummistiefel" sein letzter Roman veröffentlicht wurde. Er wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, weshalb er nicht nur eine der Figuren mit den ersten Symptomen der Krebserkrankung ausstattete, an der er selbst sterben sollte, sondern noch einmal, in nahezu prototypischer Weise, die Motive zusammenzog, mit deren Gestaltung er weltberühmt geworden war: Da ist der einsame, alternde Mann, auf dessen Schultern eine diffuse Schuld lastet. Da ist das Verbrechen, das scheinbar unmotiviert, aber immer unerbittlich zuschlägt. Da sind die zaghaften und oft unglücklichen Versuche, einem anderen Menschen zu vertrauen oder ihm seinerseits zu erlauben, die Seele des Helden zu berühren. Und wie meistens in solchen Fällen hängt der graue Himmel hinunter bis tief in das Gemüt der Menschen, und wenn die Gischt oder der Regen sie nicht regelmäßig bis auf die Knochen durchnässt, so schauen sie, jeder für sich ein traumatisiertes Wesen, in die Ferne und warten darauf (oder fürchten), dass jemand sagt: "Oheim, was tut dir weh?"

Treue Leser Henning Mankells kennen den Erzähler aus dem Roman "Die italienischen Schuhe" (2007): den Chirurgen Fredrik Welin, der sich nach einem folgenschweren Kunstfehler auf eine Schäreninsel zurückgezogen hat und dort, nunmehr fast siebzig Jahre alt, einem Tod entgegenlebt, von dem der Leser ahnen muss, dass er auch der Tod des Autors werden wird. Doch ist es, als entzöge die faktische Nähe des Sterbens dem üblichen Fegefeuer die Kraft, als erschiene es zunehmend sinnlos, die Fantasien von Verderben und Läuterung mit lauter Mord und Totschlag anzuheizen, weil das Ende ja doch absehbar ist. Und so offenbaren sich Trivialitäten, die vielleicht immer schon da waren, aber vom Spektakel überdeckt wurden. Etwa wenn der kurzentschlossen nach Paris gereiste Erzähler nach der Landung seines Flugzeugs noch eine Weile sitzen bleibt und die anderen Passagiere beobachtet, "wie sie an ihren Mänteln und an ihrem Handgepäck zerrten, als hätten alle wichtige Zeit in ihrem Leben verloren und bemühten sich jetzt, so schnell wie möglich wegzukommen". So viel Überlegenheit gegenüber dem Rest der Menschheit ist billig zu haben, und das Buch enthält große Mengen Weisheiten dieser Art.

Als ginge es tatsächlich um eine Wiederbelebung des Barock, oder als müsste der Barock nun, weil er im Norden weitgehend übergangen worden war, nachgeholt werden, steckt dieser Roman voller Allegorien: Das Haus des einsamen Arztes auf einer einsamen Insel fällt einer Brandstiftung zum Opfer, damit es kein Obdach mehr auf Erden geben kann. Es bleiben zwei Gummistiefel zurück, aber sie bilden kein Paar, sodass der Mann auf zwei linken Schuhen durch das Leben stolpern muss. Er verliebt sich in eine Journalistin, sodass er nicht sicher sein kann, dass sie sein Vertrauen nicht einer Geschichte wegen verrät. Und als die schon verloren geglaubte Tochter in das Leben des Arztes zurückkehrt, entpuppt sie sich als eine Mischung aus Pippi Langstrumpf und Lisbeth Salander, deren Projekt der Menschheitsbeglückung darin besteht, alten und kranken Menschen zu ermöglichen, ein letztes Mal ins Amsterdamer Rijksmuseum zu fahren: "Die allermeisten möchten Rembrandts Selbstporträts sehen, nicht zuletzt die, auf denen er alt ist. Ihre Begegnung, Auge in Auge, macht den Übergang vom Leben zum Tod weniger schmerzlich." Wirklich?

Die Lektüre wird nicht leichter angesichts einer Sprache, der Genauigkeit ebenso fehlt wie Lebendigkeit. Henning Mankell war kein Stilist, und er musste es nicht sein, solange das Fegefeuer hell brannte. Wenn es nur noch glimmt, fallen die vielen Floskeln der Selbstreflexion ins Auge: "Ich wusste", "ich betrachtete", "der Anblick erschütterte mich", "mir war klar", "ich stand da und schaute". Unzählige Absätze beginnen auf diese unbeholfene Art, um zur Schilderung einer Vorstellung anzusetzen, die sich bisweilen zu einem leeren Raunen steigert: "Ich hatte das Gefühl, dass sie sich verändert hatte, ohne sofort sagen zu können, woran ich das festmachte."

Unterdessen unternimmt die Übersetzung nichts, um dem verlöschenden Glimmen noch eine Form zu geben: "Ich sah, wie ihn eine große Angst überkam, aufgrund dessen, was er eben hatte erleben müssen." Es ist lange her, dass da ein Fegefeuer war.

© SZ vom 30.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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