Grimms Wörterbuch:Vom Blitzzwiebelblau zu Hitlers Tropenglut

Lesezeit: 3 min

Der Berliner Verleger Peter Graf im Gespräch über seine Anthologie mit "Wortschönheiten" aus dem "Deutschen Wörterbuch" der Brüder Grimm.

Interview von Thomas Steinfeld

Im Dezember hat der Berliner Verleger Peter Graf seine "Ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch" herausgebracht ( Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2017. 352 S., 25 Euro). Bei der Recherche geriet Graf in die Geschichte des deutschen Antisemitismus und des Nationalsozialismus.

SZ: Herr Graf, in vielen Bibliotheken, auch in privaten, stehen die 33 Bände des "Deutschen Wörterbuchs" der Brüder Grimm. Das sind fast 40 000 Zeichen, 350 000 Stichwörter mit mehr als 600 000 Belegen. Dieses Werk ist zum Nachschlagen gedacht. Die Online-Version wird viel genutzt, ebenfalls für die Suche nach einzelnen Wörtern. Sie haben es durchgelesen. Warum?

Peter Graf: Dafür gibt es eine eher literarische und eine historische Erklärung. Man kann sich, "dritthimmelverzückt", festlesen, etwa bei der Besuchameise, dem Blitzzwiebelblau, dem Entschuldigungsschwamm, den Firlefanzen, dem Frühstücksfehler, der Furzauflese, dem Genieunwesen, der Glückseligkeitsschimäre, dem Hadersuppengesindel oder Hummelhirn, den Klangklingklunkern oder der Probegeliebten. Und in den Belegen begegnet man Luther, Goethe, Schiller, Jean Paul, Wieland, Klopstock oder Heinrich Heine. Und so begann ich, mich durch das Mammutwerk hindurchzulesen und sammelte an Wörtern ein, was mir gefiel.

Und die historische Begründung?

Kennen Sie das Vorwort, das Jacob Grimm im Jahr 1854 schrieb? Darin heißt es: "Wie wenn tagelang feine, dichte flocken vom himmel nieder fallen, bald die ganze gegend in unermeszlichem schnee zugedeckt liegt, werde ich von der masse aus allen ecken und ritzen auf mich andringender wörter gleichsam eingeschneit." Tatsächlich war das 1838 begründete Wörterbuch für ihn und seinen Bruder ein Martyrium. Und nach ihrem Tod haben unzählige Germanisten und Mitarbeiter die deutsche Sprache für dieses gigantische Wortmuseum "verzettelt", bis am 4. Januar 1961 - im Jahr des Mauerbaus - die Arbeit am letzten Band des Bedeutungswörterbuchs abgeschlossen werden konnte. Das Wörterbuch ist ein Generationenwerk, das nach 1945 von beiden deutschen Staaten vorangetrieben wurde, im Osten durch die "Deutsche Akademie der Wissenschaften" in Berlin, im Westen durch die zur "Deutschen Forschungsgemeinschaft" gehörigen Arbeitsstelle in Göttingen. Das Wörterbuch ist auch ein Spiegel der Geschichte.

Wie verhält sich die poetische zur historischen Lektüre?

Uneingeschränkt euphorisch arbeitete ich mich bis zum Buchstaben J vor. Doch bei den dort versammelten Wörtern zu den Themen Juden und Judentum finden sich neben bestenfalls neutralen Begriffserklärungen Verunglimpfungen wie "Judenlümmel", "Judenmauschel", beides im 1877 publizierten Band 10, oder "Schacherjudenpack' im 1893 publizierten Band 14.

Nun gut. Der Grimm ist ein Wörterbuch der deutschen Sprache, und diese Wörter gehören nun einmal zur deutschen Sprache, auch wenn sie heute anstößig sein mögen.

Zuerst dachte ich, dass es durchaus richtig ist, im Grimm beschämt auch über solch infame Wortschöpfungen zu stolpern, die den über Jahrhunderte gewachsenen Antisemitismus deutscher Prägung vor Augen führen. Aber fassungslos machte mich, dass ich in den Bänden, die im Nationalsozialismus erarbeitet wurden, immer wieder auch auf Einträge aus Adolf Hitlers "Mein Kampf", aus dem V ölkischen Beobachter oder Zitate von Hermann Göring stieß.

Würden Sie bitte Beispiele nennen?

Zum Eintrag "Tropenglut" heißt es etwa "die nun kommende zeit lag wie ein schwerer albdruck auf den Menschen, brütend wie fiebrige tropenglut". Die dazugehörige Quelle lautet "Hitler, mein kampf (1933)". Oder bei "Glücksritter": "dieser jeder anständigen soldatischen gesinnung bare glücksritter (Churchill)". Quelle: "völkischer beobachter. 31. mai 1941". Und so geht das fort.

Was hätte man an einem fotomechanischen Nachdruck ändern können? Und wie wollen Sie jetzt mit diesem Fund umgehen?

Ich habe die Belege in meine Anthologie nicht aufgenommen. Im Duktus der Sprachverderber könnte man fordern, man müsse alle zwischen 1933 und 1945 bearbeiteten sechs Bände durchsehen und die entsprechenden Stellen "ausmerzen". Und es ist fraglos skandalös, dass sie nach wie vor völlig unkommentiert Bestandteil des Deutschen Wörterbuches sind, sowohl im digitalen Grimm als auch in den derzeit nur antiquarisch verfügbaren Printausgaben. Und zumindest diese erklärende Einordnung müsste umgehend geschehen.

Würde eine solche Einordnung nicht dem Prinzip eines Wörterbuchs entgegenlaufen?

Vor allem laufen solche Einträge dem Ansinnen Jacob und Wilhelm Grimms zuwider: "Das Wörterbuch soll die deutsche Sprache umfassen, wie sie sich in drei Jahrhunderten ausgebildet hat: es beginnt mit Luther und schließt mit Göthe. Zwei solche Männer, welche, wie die Sonne dieses Jahrs den edlen Wein, die deutsche Sprache beides feurig und lieblich gemacht haben, stehen mit Recht an dem Eingang und Ausgang." Wie geschichtliche Ereignisse Sprache zugrunde richten können, hat Wilhelm Grimm in demselben Schreiben vermerkt: "Hernach (nach Luther) hat der dreißigjährige Krieg Deutschland und sein geistiges Leben verödet; auch die Sprache welkte und die Blätter fielen einzeln von den Ästen."

Kann man diese Sätze auf die Zeit von 1933 bis 1945 übertragen ?

Welchen Schaden totalitärer Sprachgebrauch und die Sprachpolitik des Nationalsozialismus angerichtet haben, hat Victor Klemperer in seinem 1946 erschienenen Buch "LTI - Notizbuch eines Philologen" beeindruckend herausgearbeitet: "Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da."

Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus für den Umgang mit der gegenwärtigen Sprache?

Die ideologischen "Stirnarbeiter" (Alfred Rosenberg) der neuen Rechten in Deutschland reden wieder ungeniert von "Volksverrätern", vom "Denkmal der Schande". Sie wollen den Begriff "völkisch" wieder positiv besetzt wissen, oder sie erfinden Wörter wie "Umvolkung", die es im Grimm nicht gibt, die aber alt klingen. Was man der Verrohung der deutschen Sprache und Gesellschaft entgegensetzen muss, steht ebenfalls im Grimm-Wörterbuch : "Sprachmenschwerdung" heißt darin das von Jean Paul geprägte Zauberwort.

© SZ vom 24.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: