Gotik:Schlanker, steiler, höher

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In Frankreich entwickelten die Baumeister des Mittelalters den gotischen Baustil, der mit seinen kunstvollen Fenstern die behäbigen Formen der Romanik ablöste.

Von Gottfried Knapp

Die Architektur der Gotik hat bautechnische Wunder hervorgebracht, die in den Jahrtausenden zuvor nicht einmal erträumt werden konnten und auch später ohne Beispiel geblieben sind. Solch überragende Leistungen waren nur möglich, weil die Erfinder des gotischen Baustils einige an ganz unterschiedlichen Orten erprobte Bautechniken kombiniert und zu höchster Perfektion weiterentwickelt haben. In allen wichtigen Epochen vor der Gotik wurde das konstruktive System, das jedem Bauwerk zugrunde liegt, nach den in der Antike entwickelten Prinzipien bewältigt: Stütze und Last reagierten nach klar definierten Regeln aufeinander. Auf Pfeiler und Wände wurden zum Abführen der Lasten Balken und flache Decken oder Rundbögen und Gewölbe aufgesetzt. Den Punkt aber, an dem die von oben drückende Last an die emporragende Stütze weitergegeben wurde, hat man gerne plastisch herausgehoben und mit ganz bestimmten Schmuckformen versehen. Zu Säule, Balken und Bogen gesellte sich also das Kapitell.

Mit den in der Romanik üblichen massigen Bauformen, mit den dicken Mauern, in die lediglich Fensterlöcher gestanzt werden konnten, mit den schweren Tonnen- und Kreuzgratgewölben und mit den Rundbögen, die immer die ausladende Weite eines Halbkreises beanspruchten, ließen sich nur Bauten von eingeschränkter Höhe errichten. Wer wann und wo auf die Idee gekommen ist, den sehr viel schmaleren Spitzbogen mit dem eleganten leichten Kreuzrippengewölbe und mit dem statischen Abstützsystem der nach außen sich öffnenden Strebebögen und -pfeiler zu verbinden, ist nicht bekannt.

Die enormen konstruktiven und statischen Möglichkeiten, die sich aus dieser Dreierkombination ergaben, wurden in der seit 1140 errichteten Abteikirche von St. Denis bei Paris zum ersten Mal in fast schon klassischer Vollkommenheit vorgeführt. Die schmalen Spitzbögen schießen ungeniert in Höhen hinauf, die mit dem behäbigen Rundbogen nur schwer zu erreichen wären. Die von farbigen Rippen getragenen hellen Gewölbe verlieren enorm an Gewicht, sie wirken fast wie weggeblendet aus dem Raum. Die Last der Gewölbe ruht nun nicht mehr in ganzer Breite auf den Außenwänden, sie wird von den Rippen auf die Ecken übertragen und dort durch die senkrechten Fortsetzungen, die Dienste, nach unten geleitet.

Diese Dienste wirken so, als würden kraftgeladene Muskelstränge aus dem massiven Baukörper hervortreten. Da diese Kraftbündel einen Großteil des anfallenden Gewichts übernehmen, können die Wände des Raums, die bisher die Last zu tragen hatten, deutlich dünner werden, ja man kann sie ganz auflösen und als Fenster ins Freie öffnen. Doch da die Gewölbe nun nur noch auf schlanken Stützen und dünnen Wänden ruhen, also ihr Gewicht nicht mehr in ganzer Breite direkt abladen können, entwickeln sie einen Schub nach außen, der durch die außen als Stützen angebrachten Strebepfeiler und -bögen abgefangen wird.

Architektur, Bildhauerei und Glasmalerei bilden ein Gesamtkunstwerk

Dieses konstruktive System, das die Möglichkeit eröffnete, sehr viel leichter zu bauen und in ungeahnte Höhen vorzustoßen, ist also in Frankreich erfunden worden. Ja dass ausgerechnet in diesem Land, das sich nach dem Ende des gotischen Höhenrauschs lange Zeit nur noch für klassisch gemäßigte Architekturstile und für Großbauten in der Waagrechten interessierte, die technischen Kühnheiten des neuen Stils am konstruktivsten durchdacht und am fantasievollsten erprobt worden sind, bleibt eines der großen Rätsel der Kunstgeschichte. Allein in der Île de France sind noch im 12. Jahrhundert so viele Varianten des neuen postromanischen Kirchentyps errichtet worden, dass man auf einer konzentrierten Rundreise innerhalb weniger Tage eines der aufregendsten Kapitel der europäischen Architekturgeschichte nachvollziehen kann. Erst wenn man die frühgotischen Kathedralen von Noyon, Senlis, Laon und Sens und die Hauptkirche von Paris, Nôtre Dame, gesehen hat, wird man den Sonderrang der drei direkt anschließend begonnenen klassischen Kathedralen von Chartres, Reims und Amiens begreifen können. Denn nicht nur die gotische Baukunst, auch die Künste der Bildhauerei und der Glasmalerei haben in diesen Gesamtkunstwerken ihren Gipfel erreicht.

In Chartres ist das Mittelschiff schon stattliche 38 Meter hoch, in Reims 40 und in Amiens gar 42,3 Meter. Doch auch diese schwindelerregende Höhe konnte den Erbauer der Kathedrale von Beauvais nicht stoppen. Er ließ die filigranhaft ausgedünnten Pfeiler und Bögen, die sich anderswo bewährt hatten, bis in 44 Meter Höhe emporschießen und riskierte damit schon wenige Jahre später einen Einsturz des Gewölbes. Seine Nachfolger haben dann das Strebewerk, das die in den Himmel geblasenen Gewölbe in der Höhe halten sollte, kräftig verstärkt und dabei den Scheitel des Gewölbes auf 46, 77 Meter hinaufgeschraubt, auf die höchste je von einem basilikalen Gebäude erreichte Höhe.

In Deutschland hat es viele Jahrzehnte gedauert, bis die konstruktiven Feinheiten der Gotik sich gegen die plastisch ausstaffierte späte Romanik durchsetzen konnten. Die mehrtürmigen Dome von Bamberg, Naumburg und Limburg sind grandiose Zeugnisse dieses Kampfs zwischen zwei Stilprinzipien. Wie deutsche Baumeister die konstruktiven Möglichkeiten des französischen Systems erweitert und abgewandelt haben, lässt sich an einigen Sonderformen ablesen. Zu den Ruhmestaten gehören die Türme der Kirchen: das statische Wunderwerk des ornamental durchbrochenen, im Inneren ohne jede Querstrebe auskommenden Turmhelms des Freiburger Münsters etwa, oder die gebauten Himmelspfeile von Straßburg und Ulm. Eine Sonderform, die in Deutschland besonders einprägsame Räume hervorgebracht hat, ist die Hallenkirche, also das Gotteshaus mit drei gleich hohen Schiffen, das ausschließlich von den Seiten her belichtet wird. Die elegantesten dieser Bauten - etwa die Wiesenkirche in Soest - werden zu Lichtschreinen, wie sie in dieser Körperlosigkeit erst wieder im Zeitalter des Stahlbetons möglich wurden.

Für Ingenieure der Moderne jedenfalls gibt es nur eine Architekturepoche, die sie ehrfürchtig bestaunen: die Gotik.

© SZ vom 24.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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