Globalgeschichte:Hinter tausend Netzen

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Hierarchien sind Sonderfälle von Netzwerken, sagt Niall Ferguson. Die Verbindungslinien verlaufen möglichst direkt zu einem privilegierten Punkt. Aber wer weiß, was unten vor sich geht im Palazzo Pubblico von Siena. (Foto: Max Rossi/Reuters)

Der britische Historiker Niall Ferguson holt wieder ganz groß aus und bleibt doch oberflächlich: "Türme und Plätze" erzählt vom Gegensatz zwischen Hierarchien und Netzwerken.

Von Gustav Seibt

Jede Gegenwart setzt einen neuen Aspekt der Vergangenheit frei. Die Klassenkonflikte des 19. Jahrhunderts schärften den Blick auf die sozialen Ungleichheiten aller früheren Epochen. Im Kalten Krieg begann man sich für Koexistenzformen während des konfessionellen Zeitalters im 17. Jahrhundert zu interessieren. Jede Revolution sucht frühere Umstürze. Heutige Umweltkatastrophen bringen die Forschung darauf, dass schon der Zerfall des Römischen Reiches eine Folge solcher Störungen war. Erfahrungen schärfen Erkenntnisse.

Auf dieser Spur legt Niall Ferguson, einer der wenigen global beachteten Historiker, eine erst knappe, sich erst für die letzten Jahrzehnte verbreiternde Weltgeschichte unter dem Blickwinkel der Spannung von Netzwerken und Hierarchien vor. "Netzwerk", so viel weiß jeder, ist womöglich der wichtigste Begriff unserer lebensweltlichen historischen Erfahrung. Wirtschaft, Finanzströme, Terror, Wissenschaften, Migration, private Beziehungen - alles wird inzwischen durch die Infrastruktur des Internets gelenkt und netzförmig organisiert. Auch mathematisierte Modelle dazu gibt es.

Dass Ferguson nun in der Vergangenheit nicht einfach Vorformen, also andere Netzwerke sucht, sondern seine Fragestellung auf den polaren Gegensatz, die hierarchischen Strukturen erweitert, ist ein einleuchtender Zug, veranschaulicht in dem Bild von Türmen und Plätzen, Piazze und Palazzi am Beispiel Sienas. Richtig ist auch sein mehrfach wiederholter Hinweis, dass Hierarchien Sonderfälle von Netzwerken sind: In Hierarchien verlaufen die Verbindungslinien möglichst direkt zu einem privilegierten Punkt, während Querverbindungen zwischen den unteren Elementen nach Möglichkeit verhindert werden. Tyranneien hassen Öffentlichkeiten und Vereine. Kein Netzwerk allerdings ohne herausgehobene Punkte, Drehkreuze, die mehr Verbindungen aufweisen als andere.

In dieser Thinktank-Welt geht unterhalb des Kampfes um die globale Macht kaum etwas

Ferguson möchte nun vor allem die neuere Geschichte seit der Reformation als Wechselspiel zwischen Netzwerkdynamiken und hierarchischen Neuordnungen darstellen. Die Reformation verbreitete sich netzartig, gestützt auf den Buchdruck, der die erste Massenkommunikation ermöglichte. Aufklärung und neuzeitliche Wissenschaften profitierten dann gleichermaßen vom neuen Medium des Drucks wie von der handschriftlichen Verkehrsform der Gelehrtenkorrespondenz.

Die atlantischen Revolutionen können als Effekte solcher Wissens- und Netzwerkbildung begriffen werden. Aber immer kommt es auch zu neuen hierarchischen Ordnungen, so nach der Revolution zum vom Großmächten dominierten Staatensystem des 19. Jahrhunderts, das erst seit 1914 zerfiel. Ein besonderes Augenmerk hat Ferguson auf spezifische Sondernetzwerke wie die Freimaurer und Illuminaten, ohne dass man dabei Neues erführe.

Der Leser begreift das Prinzip rasch, zumal die Leitbegriffe insistent allgegenwärtig sind. Man erkennt auch die Krux solcher zeitgenössisch inspirierten Blickwechsel: Oft führen sie nur zu Umformulierungen des längst Bekannten. Früher sagte man Gleichgewicht und Hegemonie, heute Netzwerk und Hierarchie. Kissinger, dem Ferguson jüngst eine Biografie widmete, hatte eigene Netzwerke in die ganze Welt? Überraschung! Das Bankhaus Rothschild arbeitete mit einem eigenen Kurierdienst und innerfamiliärer Heiratspolitik, fast wie das Haus Sachsen-Coburg-Gotha. Netzwerk, Netzwerk.

Und so könnte auch jeder Forscher auf Gebieten, die Ferguson nicht berührt, weitermachen: Die deutsche Literatur von Klassik und Romantik besteht aus konkurrierenden Netzwerken (Weimar, Jena, Heidelberg, Berlin), die wunderbarerweise alle beim Verleger Cotta in Schwaben zusammenliefen. Sogar grafisch veranschaulichen ließe sich das, so wie Ferguson das in vielen kleinen Skizzen tut.

Das Buch hat eine vielversprechende Anlage, aber es bleibt unbefriedigend, und zwar aus einem Hauptgrund: Ferguson unterscheidet kaum zwischen Netzwerken und Infrastrukturen, das heißt, er interessiert sich für die Letzteren so gut wie gar nicht. Buchhandel und Briefverkehr der frühen Neuzeit beruhten auf einem Straßen- und Postsystem, das bis zum Eisenbahnbau eine im Wesentlichen von Pferden vorgegebene Geschwindigkeit behielt. Die europäische Welteroberung brauchte hochseetaugliche Schiffe, um sich dann von Winden führen zu lassen. Die entscheidenden Innovationen, die darüber hinausführten, das Dampfschiff, den Aufbau des Eisenbahnnetzes erwähnt Ferguson nur in wenigen Worten. Auch andere Netzbildungsgroßereignisse ignoriert er fast völlig, so die kontinentaleuropäische Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts.

Das Internet kann als Infrastruktur in mehrfachem Sinn begriffen werden: Zunächst als Kabel- und Funknetz (letzteres mit extraterrestrischen Knotenpunkten, den Satelliten) zwischen Millionen Rechnern, dann als sekundäre Infrastruktur in Gestalt jener Plattformen, die wir alle nutzen: Suchmaschinen, E-Mail-Dienste, soziale Medien, Verkaufsplattformen. Auf Facebook vernetzen wir uns, und wir können das, weil Facebook mit riesigen verkabelten Serverfarmen arbeitet. Kein Gruppenchat auf Whatsapp ohne einen Sendemast in der Nähe. Fergusons Buch bleibt oberflächlich, weil es an der technikgeschichtlichen Basis nur kratzt. Eine Druckerpresse ist noch kein Netzwerk.

Damit einher geht ein Desinteresse an alltagsgeschichtlichen Folgen der Kommunikationsrevolutionen. Beschleunigung, Zeitdruck, Allgegenwart, das kommt kaum vor. Ferguson interessiert sich für Twitterrevolutionen und Trumps Wahlkampf, aber nicht für die neuen Formen des Kommunizierens, Flirtens, Datens. Schon der Buchdruck führte nicht nur zu weiterer Vernetzung, er schuf auch den einsamen, für den Autor anonymen Leser von privaten Buchexemplaren, er hat zu tun mit der Ausbildung von Subjektivität. Bekannte Themen, aber Ferguson verbleibt in seiner politikgeschichtlichen Thinktank-Welt, wo unterhalb des Kampfes um die globale Macht nichts geht. Über Chinas eigenes Internet liest man erhellende Seiten, die als warnende Leitartikel in der Financial Times womöglich besser platziert wären.

Zur Entstehung solcher Bücher haben wir eine Hypothese: Sie werden mit einem hierarchisch kommandierten Netzwerk von Zuarbeitern herausgehauen.

Niall Ferguson: Türme und Plätze. Netzwerke, Hierarchien und der Kampf um die globale Macht. Aus dem Englischen von Helmut Reuter. Propyläen Verlag, Berlin 2018. 624 Seiten, 32 Euro.

© SZ vom 20.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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