Geschichten aus dem Leben:Blinde Passagiere

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Vier Jugendliche im Alaska der Siebzigerjahre, in dem jeder seine eigene Geschichte erlebt, die sich erst am Ende zu einer großen gemeinsamen Erzählung zusammenfindet. Leben pur, ungewöhnlich und spannend.

Von Siggi Seuß

Der Geruch von Hirschblut, Wildblumen, alten Leuten und Zedernholz, von nordamerikanischen Hemlocktannen und sogar von Schuld und Sühne - all diese Gerüche finden sich in einem Roman, den man so schnell nicht vergisst. Man kann die Häuser förmlich sehen, alles riechen, die Stimmungen empfinden. Und das, obwohl sich die Geschichten zigtausend Meilen entfernt und 46 Jahre vor unserer Zeit ereignen - im Debütroman der in Alaska aufgewachsenen und lebenden Autorin Bonnie-Sue Hitchcock, der im Original " The Smell of Other Peoples' Houses" heißt. Es ist der Übersetzerin Sonja Finck und dem Lektorat des Carlsen Verlags hoch anzurechnen, dass sie den Titel eins zu eins ins Deutsche übertrugen: "Der Geruch von Häusern anderer Leute".

Es ist nicht so, dass man als Leser in diesem Jugendroman ständig von einem Geruchsort zum nächsten stolpert. Die Gerüche existieren vielmehr wie selbstverständlich in der Geschichte - besser gesagt: in den Geschichten, den Erinnerungen der vier Erzähler Ruth, Dora, Alyce und Hank, die aus ihren persönlichen Perspektiven, und anfangs völlig unabhängig voneinander, von Ereignissen berichten, die ihnen im Jahr 1970 widerfuhren.

Die Ereignisse führen die Leser nach Fairbanks in Zentralalaska, wo Ruth, Dora und Alyce leben, und tausend Meilen südöstlich auf den Fischkutter von Alyces Vater und auf ein Fährschiff, auf dem Hank und seine beiden Brüder als blinde Passagiere von ihrem ungeliebten Zuhause flüchten. Selbst die Kreise der 16-jährigen Mädchen aus Fairbanks scheinen sich nur gelegentlich zu berühren. Man könnte von einem Roman sprechen, in dem sich Episoden aus dem Leben einzelner Menschen auf wundersame Weise zu einem größeren Ganzen zusammenfügen: Durch Zufälle, durch das, was man Schicksal nennt, oder durch die Zauberhand der Autorin, die ihren Figuren Leben einzuhauchen vermag. Im Alltagsmilieu. In den Träumen. In den Sichtweisen auf das Geschehen und in der individuellen Poesie der Sprache. Das alles eingebunden in die atemberaubende Landschaft, das raue Meer und die Schrecknisse zivilisierter Orte.

Dabei eröffnet sich die ganze Vielfalt des Lebens im fernen Alaska. Katholische Frömmigkeit, Liebessehnsüchte, gegenseitige Hilfe, eine schier unüberwindbare Kluft zwischen wohlhabenden und armen Menschen, katastrophale Familienverhältnisse, Gewalt, die Geborgenheit intakter Gemeinschaften, die harte Arbeit von Fischern und Jägern, die unterschiedlichen Lebensweisen von Inupiat - den Ureinwohnern, Athabaskan - den Indianern und den Weißen. Dieser Kosmos kommt einem auch deshalb nahe, weil die Räume, die Orte und Landschaften für die Leser so fassbar erscheinen wie die Seelenstimmungen der Menschen, selbst wenn wir hier in einem ganz anderen Kultur- und Naturkreis leben. Auf eigentümliche Weise verbinden sich die Schauplätze mit Erinnerungen an eigene sinnliche Erfahrungen von Gerüchen von Häusern anderer Leute und den Geschichten, die wir damit verbinden. (ab 14 Jahre)

Bonnie-Sue Hitchcock: Der Geruch von Häusern anderer Leute. Aus dem Englischen von Sonja Finck. Königskinder 2016. 320 Seiten, 17,99 Euro.

© SZ vom 24.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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