Geschichte:Vorsicht, Himmel fällt runter!

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Den Kelten verdanken wir Tattoo-Stile, Fantasy-Mode und Separatismus. Doch gab es sie überhaupt? Eine Ausstellung im British Museum meint: alles erfunden.

Von Alexander Menden

Am Abend des 28. Mai 1891 stieß der Spaten eines Torfstechers nahe dem dänischen Gundestrup im weichen Boden unerwartet auf etwas Hartes. Je mehr Erde der Mann von dem glänzenden Gegenstand entfernte, desto aufgeregter wurden er und die übrigen Arbeiter. Der Fund entpuppte sich als ein riesiger, silberner Kessel. Seine Wände und sein Boden waren bedeckt mit Darstellungen von Menschen mit emporgereckten Armen, von Tieren und Fabelwesen, von Reitern, Kriegern und gehörnten Göttern.

Wenn man das fantastische Stück nun im Londoner British Museum aus der Nähe betrachtet, fällt vor allem die Dynamik auf, mit der die stilisierten Lebewesen umeinander wirbeln, die zum Sprung ansetzenden Raubkatzen, Greife und erstaunlich schlanken Elefanten. Ein Meisterwerk der Schmiedekunst - und ein Rätsel.

Der Kessel von Gundestrup ist eins der faszinierendsten Kunstwerke, die das British Museum für seine Ausstellung "Kelten - Kunst und Identität" zusammengetragen hat. Neben seiner schieren Schönheit ist der Kessel auch aufgrund der Umstrittenheit seiner Herkunft ein zentrales Stück der Schau. Vermutlich entstand er zwischen dem zweiten und dem ersten vorchristlichen Jahrhundert (obwohl es hier abweichende Meinungen gibt).

Ist er westeuropäischer Herkunft und stellt keltische Götter dar, etwa den mit einem Hirschgeweih gekrönten Cernunnos? Und sind die Szenen, die er zeigt, Vorläufer frühmittelalterlicher keltischer Mythen? Oder stammt er, obwohl in Jütland entdeckt, vielleicht doch aus Thrakien in Südosteuropa? Die Götter könnten Darstellungen der Kybele und des Orpheus sein.

Die Ausstellung stellt grundlegende Fragen über ihr Thema: Wer genau waren die Kelten? Wann traten sie in die Geschichte ein? Gab es sie überhaupt? Wie relevant diese Fragestellung ist - viel aktueller als etwa die nach einer germanischen Identität der Deutschen - zeigte sich erst vergangenes Jahr: Die Kampagne für und wider die schottische Unabhängigkeit von Großbritannien war zwar komplex und facettenreich. Aber kaum ein Motiv wand sich so prononciert durch die Debatte, kaum eines wurde von vielen Abspaltungsbefürwortern so leidenschaftlich ins Feld geführt, wie die Vorstellung von einer eigenständigen keltischen Identität der Schotten.

Dudelsack und Kilt sind für manche Schotten Insignien einer nie aufgegebenen Kultur

Dudelsack, Kilt, Breitschwert - sie alle sind, abseits touristischer Vergangenheitstümelei, für manche Schotten Insignien einer jahrtausendealten, nie aufgegebenen Kultur. Die Neubelebung des einmal fast ausgestorbenen schottischen Gälisch, die Ceilidh-Tänze und Highland Games stehen dabei, genau wie neodruidische Rituale in Wales und Stonehenge, für zweierlei: Für eine romantische Neuschöpfung des "Keltentums" einerseits, und für eine tiefempfundene Selbstwahrnehmung als Teil der keltischen Familie andererseits. Beide Aspekte, den historischen wie den oft horrend kitschigen neokeltischen, setzt die Londoner Schau ins Verhältnis.

Die herkömmliche Lösung des Rätsels, wer die Kelten waren, lautet in etwa: Ein Volk, erstmals von Herodot beschrieben, das vor Tausenden von Jahren von Osten nach Europa einwanderte und ein Gebiet zwischen Balkan, Norditalien, Westeuropa und den Britischen Inseln besiedelte.

Ihre Sprachen waren vielfältig, aber verwandt; ihre von dekorativen Rankengewinden geprägte Kunst ist vom fünften Jahrhundert vor Christus bis ins Mittelalter hinein nachzuverfolgen. Caesar bekämpfte die Kelten in Gallien (und zählte in "De bello Gallico" zahlreiche keltische Stämme auf); in Großbritannien versuchten ihre Anführer Caractacus und Boudicca einen Aufstand gegen die Römer. Sie scheiterten, aber die Kelten blieben in Britannien, nachdem die Römer längst abgezogen waren.

Die Kuratoren der Londoner Ausstellung stehen dieser Version skeptisch gegenüber. Sie halten sie für eine nachträglich vereinfachende Sicht auf eine deutlich kompliziertere historische, archäologische, ethnische und linguistische Sachlage. Diese Skepsis ist durchaus berechtigt, zumal, wenn man einen Kulturkreis betrachtet, der sowohl geografisch als auch zeitlich so unübersehbar ausgedehnt ist.

Erschwerend kommt hinzu, dass es keine keltische Literatur gibt, so dass wir so gut wie nichts über Mythologie und Spiritualität der Kelten wissen. Die wenigen bekannten Details stammen von Dritten.

So erfahren wir von der angeblich größten (und regelmäßig in "Asterix"-Heften aufgegriffenen) Furcht der Kelten durch den Griechen Strabo, der über eine Begegnung zwischen Alexander dem Großen mit einer keltischen Gesandtschaft berichtet: "Nachdem der König sie freundlich empfangen hatte, habe er sie beim Zechen gefragt, was sie am meisten fürchteten, in der Meinung, sie würden sagen: ihn. Sie selber aber hätten geantwortet: nichts, außer, dass der Himmel ihnen auf den Kopf fiele."

Die anekdotenhafte und sonst weitgehend erfundene Geschichte der Kelten diente vom 19. Jahrhundert an als Ausgangspunkt des "Celtic Revival", dem wir viel neopaganen Hokuspokus, einen eigenen Tätowierstil und ein Gutteil der Fantasy-Begeisterung unserer Tage verdanken.

Selbst was das Handfesteste und Schönste angeht, das erhalten ist, Kunst und Kunsthandwerk, meldet die Londoner Ausstellung Zweifel an: "Das Konzept einer keltischen Kunst war eine viktorianische Erfindung", so die Kuratoren. Doch beim Betrachten der Gemmen und Spangen, der Schilde und Becher beschleicht einen der Verdacht, dass die Skepsis der Kuratoren zu weit geht.

Es ist menschlich, Phänomene, Stile, Menschengruppen in fest umrissene Begriffe zu bannen, ihren Facettenreichtum durch die Betonung der Gemeinsamkeiten zu bändigen. Und es ist richtig, das eine Institution wie das British Museum die Schwierigkeiten einer solchen Einordnung aufzeigt. Was hat etwa die 2500 Jahre alte Statue eines Gottes mit Hörnerhelm aus dem baden-württembergischen Holzgerlingen mit dem mittelalterlichen, irischen Muiredach-Kreuz gemein, außer dass beide aus Stein und religiös konnotiert sind?

Aber die ästhetischen Ähnlichkeiten vieler hier gezeigter Stücke sind einfach zu offensichtlich, um die Idee einer europaweiten, Jahrhunderte überdauernden keltischen Identität auf reines Wunschdenken zurückzuführen. Natürlich sind sie alle von ihrer Zeit und den sie umgebenden Kulturen beeinflusst.

Die Geflechte breiten sich überall aus: auf einem Bronzemesser, einem Schild, einer Brosche

Im Evangeliar von Echternach aus dem Trierer Domschatz etwa sind die Symbole für die Evangelisten von fränkischer Strenge. Die sie umgebenden Verzierungen aber präsentieren jenes gewundene, intrikate Rankengeflecht, das man sofort mit keltischer Ästhetik assoziiert.

Diese Linienstrudel findet man auf einem länglichen Schild, den jemand im dritten Jahrhundert vor Christus in die Themse warf, ebenso wie auf der rund tausend Jahre später entstandenen, unendlich feinen Hunterston-Brosche aus Ayrshire. Sie breiten sich auf einem geheimnisvollen, antiken Bronzemesser aus, auf pferdeköpfigen Schwertscheidenverzierungen aus dem Königreich Mercia und auf piktischen Steinstelen.

Solche schwindelerregenden Geflechte mit ihren Triskelen und Trompetenspiralen mögen ihre Wurzeln in "germanischen Gegenden in der klassischen Welt" haben, wie der Katalog betont. Aber wenige Stile haben einen so hohen Wiedererkennungswert. Es mag nie ein keltisches Volk gegeben haben - einen keltischen Stil gibt es zweifellos.

Man braucht nicht mit allen Thesen der Kuratoren überzueinstimmen, um ihre archäologische und kunsthistorische Grundlagenarbeit zu bewundern. Am beeindruckendsten aber sind die Schätze, die im British Museum zusammengetragen wurden. Als eine der letzten Ausstellungen unter dem scheidenden Direktor Neil MacGregor zeigt "Kelten - Kunst und Identität" noch einmal, zu welcher Blüte er sein Haus geführt hat. An der Qualität von Ausstellungen wie dieser wird sich sein Nachfolger, der deutsche Kunsthistoriker Hartwig Fischer, vom kommenden Jahr an messen lassen müssen.

Celts. Art and Identity. British Museum, London. Bis 31. Januar 2016. www.britishmuseum.org, Katalog 25 Pfund.

© SZ vom 09.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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