Geschichte:Feminismus trifft Pazifismus

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Hüte statt Helme: Delegierte des Frauenfriedenskongresses, der am 28. April 2015, mitten im Ersten Weltkrieg, in Den Haag begann. (Foto: Library of Congress)

Mitten im Ersten Weltkrieg protestierte der erste Frauenfriedenskongress gegen Vergewaltigungen.

Von Wolfgang U. Eckart

Die See war rau, und nicht nur Eisberge, sondern auch militärische Gefahren lauerten auf der Nordatlantikroute des holländischen Schiffs "S. S. Noordam". Es befand sich im April 1915 nach einer Minenkollision und Reparaturpause auf der ersten Rückfahrt von New York nach Rotterdam. Nicht alle der mehr als 2300 Schlafplätze an Bord waren in diesen Kriegszeiten belegt, als das Schiff durch die Frühjahrsstürme nach Osten stampfte. Seit dem 22. Februar befand sich das Deutsche Kaiserreich im uneingeschränkten U-Boot-Krieg gegen die westlichen Mächte, aber auch gegen neutrale Handelsschiffe. Doch bis zu dem berüchtigten Torpedoangriff auf die "Lusitania" am 7. Mai 1915 dachte man auch auf der Noordam noch nicht an eine Versenkung - zu Recht, wie sich zeigen sollte, denn die Fahrt bis in den englischen Kanal verlief glimpflich. Eine weitere schwere Minen-Verwundung sollte das Schiff erst im August 1917 davontragen.

An Bord waren Diplomaten, Kaufleute, wegen schlechter Gesundheit zurückgewiesene Auswanderer, und Privatreisende - darunter 47 Pazifistinnen aus den USA auf dem Weg zum ersten Frauenfriedenskongress, der vom 28. April bis zum 1. Mai 1915 im niederländischen Den Haag stattfinden sollte. Ganz ohne Störung allerdings verlief die Reise nicht, denn kurz vor dem Ziel wurde die Noordam mitten im Kanal noch einmal für zwei Tage von britischen Kriegsschiffen gestoppt, bevor das Schiff nach diesem unfreiwilligen Halt und nervenaufreibenden Verhandlungen endlich die Küste Hollands erreichte.

Britischen Pazifistinnen hatte die Regierung in London die Ausreise nach Den Haag gleich ganz verwehrt. Und auch für die Teilnehmerinnen anderer Nationen war die Reise mitten im Krieg alles andere als ein Vergnügen. Die fünf belgischen Delegierten litten unter Drangsalierungen des deutschen Besatzer: Generalgouverneur Moritz von Bissing hatte ihnen die Ausreise schließlich zögerlich gestattet, die Damen dann aber nach peinlichen Leibesvisitationen zu Fuß mehr als zwei Stunden die Grenzbahnstrecke von Belgien nach Holland laufen lassen. Als sie dann nach weiteren Stunden Bahnfahrt verspätet in Den Haag eintrafen, erhoben sich die mehr als 1500 Kongressteilnehmerinnen, Besucher und Journalisten in Respekt und unter Applaus im "Dierentium", dem großen Festsaal des Haager Tierparks. Unter ähnlich schwierigen Bedingungen gelangte die Sozialökonomin, Frauenrechtlerin und Pazifistin Zofia Daszyńska-Golińska von Warschau nach Den Haag. Die meisten der 28 deutschen Teilnehmerinnen, unter Ihnen die Juristin und Frauenrechtlerin Anita Augspurg und deren sozialpolitisch engagierte Lebensgefährtin, Lida Gustava Heymann, sowie die Sexualreformerin und Publizistin Helene Stöcker, wurden schärfsten Kontrollen beim Grenzübertritt unterzogen. Die Stuttgarter Pazifistin und Frauenrechtlerin Frieda Perlen durfte das Land erst gar nicht verlassen.

Die allererste approbierte Ärztin der Niederlande, Aletta Jacobs, Frauenrechtlerin und Sexualberaterin, eröffnete den Kongress am Abend des 28. April mit bewegenden Worten: "Mit klagenden Herzen stehen wir hier vereint. Wir trauern um so viele tapfere junge Männer, die ihr Leben verloren, noch bevor sie zu Männern wurden. Wir klagen mit den armen Müttern, die ihrer Söhne beraubt wurden, mit Tausenden junger Witwen und vaterlosen Kindern. In diesem zwanzigsten Jahrhundert der Zivilisation können wir nicht mehr ertragen, dass Regierungen einzig nackte Gewalt zur Lösung internationaler Konflikte tolerieren." Man hoffe, so die Ärztin, dass die gemeinsame Stimme der Frauen "bis ans Ende der Erde dringe im Protest gegen diesen fürchterlichen Massenmord".

Sicher vereinte der gemeinsame Pazifismus die Teilnehmerinnen des Kongresses, auch wenn sie gegnerischen Nationen angehörten. Doch ganz ohne Misstrauen trafen auch die Frauenrechtlerinnen befeindeter Nationen nicht aufeinander. "Wenn hier deutsche Frauen an den Diskussionen teilnehmen, dann sollten auch belgische Vertreterinnen anwesend sein, um zu sehen, dass die Wahrheit über die Situation unseres Landes gesprochen wird", meinte eine belgische Delegierte.

Gerade die Leiden der weiblichen Zivilbevölkerung in den belgischen und russisch-polnischen Okkupationsgebieten des Deutschen Kaiserreichs standen auf der Agenda des Kongresses an erster Stelle. So berichteten belgische Delegierte über mehr als 160 000 Flüchtlinge ihres Landes, meist Frauen und Kinder, die unter bedrückendsten Bedingungen Zuflucht in belgischen Auffanglagern gefunden hatten und nicht in ihre Heimat zurück wollten, bevor dort wieder nationale Freiheit und Recht herrschen würden. Alle hatten sie Kinder, Ehemänner, Freunde und Angehörigen in den Kriegswirren verloren.

Der Kongress bestritt heftig, dass Frauen in modernen Kriegen geschützt werden könnten

Hintergrund der Massenfluchten waren die zahlreichen Vergewaltigungen und Verstümmelungen von Frauen und Mädchen durch deutsche Soldaten im Zuge des deutschen Überfalls auf Belgien und Nordostfrankreich im Spätsommer 1914. Sexuelle Übergriffe dieser Art erfolgten keineswegs nur hinter verschlossenen Türen, sondern auch in aller Öffentlichkeit und in Gegenwart von "Zwangszuschauern". Zofia Daszyńska-Golińska wiederum beklagte die Leiden der Polinnen, die nun nicht nur unter der russischen Knute, sondern auch noch unter zwei marodierenden Okkupationsarmeen zu leiden hätten. Über Vergewaltigungsexzesse sei zu berichten, über 10 000 verwüstete und 2000 niedergebrannte Dörfer. Man wisse wenig im Westen über das Leid des polnischen Volkes, dessen Söhne, in die verschiedenen Besatzungsarmeen gepresst, aufeinander oder auf ihre Väter schießen müssten.

Solche Berichte ließen den Kongress in einem seiner Beschlüsse diesen Protest formulieren: "Dieser Internationale Frauenkongress protestiert gegen die Auffassung, dass Frauen unter einer modernen Kriegsführung geschützt werden können. Er protestiert aufs Entschiedenste gegen das furchtbare Unrecht, dem Frauen in Kriegszeiten ausgesetzt sind, und besonders gegen die entsetzlichen Vergewaltigungen von Frauen, welche die Begleiterscheinung jedes Krieges sind."

Zentrales Anliegen war in Den Haag vor genau 100 Jahren die dauerhafte Beendigung des Krieges und ein Frieden durch "ständige Vermittlung". Der Kongress forderte erstmals die Ächtung von systematischer Gewalt gegen Frauen als Mittel der Kriegsführung sowie eine neue friedliche Wirtschaftsordnung. Beschlossen wurde auch ein "Internationaler Frauenausschuss für dauernden Frieden", Vorläufer der 1921 gegründeten "Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit" ("Women's International League for Peace and Freedom"). In der Schlussdeklaration hieß es: "Wir erklären feierlich jeder Neigung zu Feindschaft und Rache zu widerstehen, dagegen alles Mögliche zu tun, um gegenseitiges Verständnis und guten Willen zwischen den Völkern herzustellen und für die Wiederversöhnung der Völker zu wirken. Wir erklären: Der Lehrsatz, Kriege seien nicht zu vermeiden, ist sowohl eine Verneinung der Souveränität des Verstandes, als ein Verrat der tiefsten Triebe des menschlichen Herzens."

Am Ende brach eine Delegation der Friedensaktivistinnen zu Informations- und Verhandlungsreisen in die Hauptstädte der Kriegsteilnehmer und in den Vatikan zu Papst Benedikt XV. auf. In der konkreten Situation des Weltkriegs scheiterte der Kongress, insgesamt aber setzte er wichtige Signale für die internationale Frauenfriedensarbeit. Man hoffte, dass sich in nicht zu ferner Zukunft die erschöpften Überlebenden des schrecklichen Krieges an die Friedensinitiative der Frauen erinnern würden, auch dass es einst möglich sein würde, trotz aller Schwierigkeiten die so überaus "komplizierte moderne Welt" durch Internationalismus besser zu verstehen als durch die vielen Nationalismen, die den Krieg verursacht hätten.

Am 1. Mai 1915 war man indes weit von solchen Friedensvisionen entfernt. Als an diesem Tag in Den Haag die 1500 Friedensaktivistinnen auseinandergingen, stach in New York die "Lusitania" mit 1258 Passagieren und 701 Besatzungsmitgliedern in See - um eine Woche später von einem deutschen U-Boot versenkt zu werden.

Wolfgang U. Eckart ist Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Heidelberg.

© SZ vom 28.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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