Geschichte:Das Ende einer Lebensform

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Manfred Flügge: Stadt ohne Seele. Wien 1938. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 479 Seiten, 25 Euro. E-Book 18,99 Euro. (Foto: N/A)

Wien ist mehr als eine Stadt gewesen, Wien war ein Zustand. Ein Geistesbiotop, unvergleichbar reich an den schönsten Künsten. Schriftsteller Manfred Flügge über die österreichische Hauptstadt im Jahr 1938.

Von Rudolf Neumaier

Wien ist mehr als eine Stadt gewesen, Wien war ein Zustand. Ein Geistesbiotop, unvergleichbar reich an den schönsten Künsten. In der Donau-Schwemmebene gediehen Musik, Dichtung und Malerei, aber auch die Wissenschaften anders und oft wesentlich besser als in anderen Städten. Für diesen Wiener Zustand findet Manfred Flügge einen eigenen, sehr schönen Begriff. Wien, schreibt er, war eine "geistige, sinnliche, stilvolle Lebensform". Bis Hitler kam.

Manfred Flügge firmiert als Schriftsteller, doch seine Bibliografie weist ihn vor allem als Künstlerhistoriker aus. Er glänzte mit Biografien über Heinrich Mann, Marta Feuchtwanger und Heinrich Schliemann. Nun nimmt er sich eine Stadt vor. Eine Lebensform. Flügge beschreibt Wien und seinen Niedergang in die nationalsozialistische Diktatur. "Stadt ohne Seele" ist die Geschichte des Verlusts von Vernunft und Menschenliebe. Fokussiert ist sie auf 1938. Im März jenes Jahres eroberte Hitler sein Herkunftsland ohne Waffengewalt.

Was in Deutschland mit Gänsefüßchen als Machtergreifung in Schulbücher einging, war in Österreich der "Anschluss". Wenn ihr Programm mal nicht lief, weckten österreichische Kabarettisten ihr Publikum lange Zeit allein mit einem Wort auf, und sie mussten es nicht einmal schreien. Anschluss. Sagt man nicht. Gibt man es auf der Homepage der Telekom Austria in die Suchleiste ein, erscheinen 64 Treffer. Zum Vergleich: Bei der deutschen Telekom kommen 820, hier sind Anschlüsse etwas unpolitischer konnotiert. Aber egal. Was mit Wien passierte, war global betrachtet einer der größten erfolgreichen Anschläge des Ungeists auf Kunst und Intellekt überhaupt. Das ist Flügges Geschichte, die sich aus vielen Dutzend Episoden und Biogrammen zu einem Panoptikum fügt.

Wiener Geist gegen Eindringling: Diese Dramaturgie trägt über eine lange Strecke

Nur wenige Städte beziehungsweise Lebensformen können mit einem Personenregister aufwarten, wie es dieses Buch abschließt. Solche Register am Ende historischer oder literaturgeschichtlicher Abhandlungen lesen sich meistens wie Telefonbücher - nur bleiben die Nummern zwei- oder dreistellig und die Namen sucht man allenfalls bei Bedarf. Schön, dass es noch Telefonbücher und Register gibt. Der Appendix von Flügge fungiert als Who's Who, doch hier stehen Musil und Horváth, Zuckerkandl und Werfel Namen wie Göring, Seyß-Inquart und Goebbels gegenüber.

Und Freud trifft auf Hitler. Sie sind Antipoden, in der Geschichte und in diesem Buch. Manfred Flügge, Jahrgang 1946, lässt es im Klappentext als Zeitroman verkaufen. Das ist etwas weit gegriffen gemessen an der herkömmlichen Definition. "Schicksalspanorama", wie es auch heißt, trifft es genau. Wobei Flügge keinen durchgehenden und auch keinen chronologischen Text vorlegt, der mit dem Jahr 1933 anfängt und 1945 endet. Für einen echten Zeitroman wäre das Material womöglich zu disparat. Also wirft er in seinen Miniaturen Schlaglichter auf großartige Wiener.

Adolf Hitler, den beim Austro-Mob willkommenen Kulturvernichter, streut Flügge als Kontrastmittel über die gut 400 Seiten. Wiener Geist gegen Eindringling - diese Dramaturgie trägt locker über eine lange Strecke. Das stolze Österreich war mit einfachsten Mitteln in die Knie gezwungen, ja geradezu düpiert. Doch viele Österreicher feierten die Usurpation ihres eigenen Stolzes wie eine Befreiung. Wenn Manfred Flügge - stets akkurat mit Anmerkungen - historische Quellen heranzieht, hat er ein Gespür für ihre Wirksamkeit. Für quellenkritische Differenzierungen bleibt kaum Platz, und manche Stellen erinnern an die Fernsehdokumentationen von Guido Knopp. Dennoch liest man beispielsweise die Aufzeichnungen von Kurt Schuschnigg über seinen Besuch bei Hitler in Berchtesgaden immer wieder aufs Neue mit Abscheu, und dann auch noch in diesem Kontext.

Der österreichische Kanzler Schuschnigg ging als brutaler Austro- und Klerikalfaschist in die Geschichte ein, aber das ist nicht alles. Er trat für die Unabhängigkeit seines Landes ein und versuchte seine Macht zu behaupten. Sigmund Freud bezeichnete ihn als "anständigen, mutigen und charaktervollen Menschen". Das detailreiche Beschreiben seiner Expedition im Februar 1938 auf den Obersalzberg ist exemplarisch für Manfred Flügges Episodengeschichte. Um den Kontrast zu Hitler zu verschärfen, streicht er den "wohlerzogenen stillbewussten Ästheten" in Schuschnigg heraus. Hitler schüchtert ihn mit hochdekorierten Offizieren ein, die aber nur als Statisterie herumstehen. Er lässt Schuschnigg nicht rauchen. Schreit ihn an. Lässt sich von ihm mit "Herr Reichskanzler" ansprechen und nennt ihn "Herr Schuschnigg". Und so weiter. Etwa ein Jahr später sitzt Schuschnigg im Konzentrationslager Dachau.

Der Völkische Beobachter war in Österreich bis zum Jahr 1938 verboten, am 12. März kam er zum ersten Mal in Wien heraus. Im Handumdrehen hatten die Nazis alle Zeitungsredaktionen des Landes mit Parteigängern besetzt. Und Wiener wie der Pharmakologe und Medizin-Nobelpreisträger Otto Loewi (1873 bis 1961) und der vormals in Berlin tätige Journalist Robert Breuer (1878 bis 1943) mussten zusehen, dass sie wegkamen. Sie waren Juden. Was über sie noch herauszufinden war, ist hier in reportageartige Mikrostudien gegossen.

Mitten in der Wiener Düsternis finden sich Anekdoten wie jene von Sigmund Freud. Was macht man wohl als berühmter Geistesmensch, wenn einem eine mindestens genauso berühmte, aber viel mächtigere Person ein Buch zueignet? Man legt es ab und ignoriert sie. Oder man holt ein selbst verfasstes Buch aus dem Regal und lässt es dem Popanz mit immerhin exklusiver Ehrerbietung zukommen. Sigmund Freud, der berühmteste Geistesmensch seiner Zeit in Wien, zog seinen auf 60 Seiten gedruckten Briefwechsel mit Albert Einstein aus dem Regal, und schickte ihn dem Faschisten Mussolini mit den Worten: "Benito Mussolini mit dem ergebenen Gruß eines alten Mannes, der im Machthaber den Kulturheros erkennt." Freud hoffte noch, im April 1933.

Wer mit Kunst nichts anfangen konnte in Wien, gab sich mit dem Fußball ab. Österreich war eine große Fußballnation, seine Mannschaft hatte sich im Gegensatz zu den Deutschen für die Weltmeisterschaft qualifiziert. Ihr Star war Matthias Sindelar. Man sprach von der "Wiener Schule", die er ballkünstlerisch geprägt hatte. Der März 1938 beendete diese Blütezeit - die Nationalsozialisten schafften den Profifußball, den sie als "verjudet" abqualifizierten, wieder ab. Und Reichstrainer Herberger konnte nichts anfangen mit dem Mittelstürmer. Sindelar erstickte im Januar 1939 in seiner Wohnung. Immerhin, die seelenlos gewordene Stadt trauerte ihm nach.

© SZ vom 13.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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